Rimski-Korsakow: Scheherazade




Konzert des Radio-Sinfonieorchesters Stuttgart


15/16 Januar 1998


Dirigent: Djansug Kachidse




Träume von einer besseren Welt


Nikolai Rimski-Korsakow und "Scheherazade"




"...Ihr lest dort die ganze Wahrheit, während wir hier aus den Anspielungen in den Zeitungen nur mutmaßen können, welche Scheußlichkeiten in Rußland gegenwärtig begangen werden, um die Massen zu zügeln und gefügig zu machen", schrieb Nikolai Rimski-Korsakow im Sommer 1905 an seine zeitweilig im Ausland weilende Frau. "Das, was auf der Fürst Potemkin geschehen ist, läßt sich nur als ein noch nie dagewesener, unerhörter Vorfall bezeichnen, der nichts anderes ist, als das folgerichtige Ergebnis der Prügelstrafen, Auspeitschungen, Erschießungen und Erhängungen." In diesem Revolutionsjahr erlebten die Menschen in Rußland zahlreiche Meutereien, Aufstände und Unruhen, die die Zarenherrschaft erschütterten, doch noch nicht zu Fall brachten. Es war auch die Zeit, in der Rimski-Korsakow kurz vor der Fertigstellung der über viele Jahre sich hinziehenden Niederschrift seiner wohltuend uneitlen Lebenserinnerungen stand. Gemäß dem Titel dieser 1909, ein Jahr nach seinem Tod, veröffentlichten "Chronik meines musikalischen Lebens", bietet der Band keine Anekdotensammlung oder politisch-ästhetische Diskurse, sondern eine nüchterne Bestandsaufnahme des Geleisteten.

Demzufolge waren schon beim jungen Rimski-Korsakow die "Sympathien ... auf seiten der liberalen Strömungen", was seinen Ausdruck in erster Linie in seinen Kompositionen fand. Am deutlichsten ließen sich seine humanistischen Ideale dabei im Theater darstellen, und so verstand sich Rimski-Korsakow vor allem als Opernkomponist, wovon fünfzehn Bühnenwerke zeugen. Aber er wandte seine brillante Instrumentationskunst auch auf zahlreiche Orchesterstücke an, die außerhalb seiner Heimat leichter Verbreitung fanden. Sowohl in der Oper als auch im Konzertsaal machte sich Rimski-Korsakow die beiden beherrschenden Themen der russischen Musik, Historie und Legende, zu eigen: die intensive Beschäftigung mit der Geschichte des eigenen Landes sowie das Gleichnis in Form des Märchens. Wichtige Zeugnisse dieser Auseinandersetzung sind auf der Bühne Die Zarenbraut, Die Legende von der unsichtbaren Stadt Kitesch - das Hohelied des Altruismus - oder die satirische Oper Der goldene Hahn, bzw. im Konzert die Ouvertüre Die großen russischen Ostern, eine Verarbeitung russischer Kirchengesänge, und die am 3. Dezember 1888 im gleichen St. Petersburger Konzert uraufgeführte Orchestersuite Scheherazade.





Zwischen Pflichten und Kreativität



Diese Scheherazade bildet den vorläufigen Höhepunkt einer Entwicklungsphase im Schaffen Rimski-Korsakows; zugleich ist sie das künstlerisch bedeutendste Ergebnis eines langen Reifungsprozesses. Obwohl Rimski-Korsakow beim Zeitpunkt der Uraufführung bereits drei Sinfonien, zahlreiche Orchesterwerke und vier Opern verfaßt hatte, war der bescheidene Künstler keineswegs ein Senkrechtstarter, ja, es bedurfte stets neuer Ansätze, bis aus ihm einer der bedeutendsten russischen Tonsetzer und Lehrmeister wurde, der nachfolgende Generationen prägte.

Nikolai Rimski-Korsakow, 1844 in der Provinz Nowgorod zur Welt gekommen, trat zunächst in die Fußstapfen seiner Vorfahren. Er studierte an der Marineschule in St. Petersburg, während er das Musizieren und Komponieren vorerst nur als Hobby betrieb. Noch während seiner Ausbildung zum Marineoffizier arbeitete er an einem Orchesterwerk, das man später als die "erste russische Sinfonie" pries, doch wurde er 1862 zunächst auf ein Schiff abkommandiert, auf dem er drei Jahre um die Welt segelte. Hier lernte er die völlig unmusische rauhe Wirklichkeit zur Genüge kennen. Bereits vor seiner Abreise hatte der Musikliebhaber Kontakte zu einem Zirkel hochtalentierter Künstler geknüpft, der sich um Mili Balakirew scharte und die Pflege der nationalen russischen Musik auf seine Fahnen geschrieben hatte. Er sollte als das "Mächtige Häuflein", zu dem noch Cui, Mussorgski und Borodin gehörten, Geschichte machen. Rimski-Korsakows anschließende Tätigkeit am Marine-Ministerium ließ ihm viel freie Zeit für seine musikalischen Aktivitäten. Die Bekanntschaft mit Pjotr Tschaikowski, der unterdessen Professor für Harmonielehre am erst wenige Jahre zuvor in Moskau gegründeten Konservatorium war, half ihm 1867, sich allmählich aus dem übermächtigen Einfluß des Balakirew-Kreises zu lösen, bei dem intensive musikwissenschaftliche und kompositorische Studien verpönt waren. Mit Argwohn verfolgten die früheren Weggefährten Rimski-Korsakows Bestreben, sich durch die Aneignung von Grundlagenwissen technisch immer mehr zu vervollkommnen. Als er 1871 als Kompositionslehrer an das Konservatorium von St. Petersburg berufen wurde, bedauerte Rimski-Korsakow noch immer seine lückenhaften Kenntnisse auf dem Gebiet der Musiktheorie. "Unverdienterweise", so schrieb er, "zum Professor des Konservatoriums erhoben, wurde ich bald zu einem seiner besten Schüler - vielleicht sogar zum allerbesten - im Hinblick auf die Quantität und Qualität der Kenntnisse, die es mir gab."

Rimski-Korsakow hat neben der Herausgabe einiger wissenschaftlicher Standardwerke nicht nur viel für die Verbreitung der Opern von Dargomyschski, Borodin und Mussorgski getan, sondern auch Schülern wie Prokofjew, Respighi und Strawinsky wesentliche Impulse vermittelt. Während ihm depressive Phasen, der engagierte Einsatz für das Werk befreundeter Musiker - darunter die Fertigstellung von Borodins Fürst Igor, Mussorgskis Chowanschtschina und die Bearbeitung des Boris Godunow - und seine Lehrtätigkeit oft wenig Zeit für eigene Kompositionen ließen, vermochte er sich nach Tschaikowskis Tod 1893 mit einer unglaublichen kreativen Intensität zu einem der führenden Opernkomponisten des Landes zu entwickeln. Die bestimmenden Themen seines Oeuvres bildeten die Beziehung des Menschen zur Natur (in der ganzen Vielfalt des heidnischen Polytheismus im Gegensatz zum autoritär-monoistischen Zarentum), Kritik an der Macht sowie Frauen als Opferfiguren und Idealbilder. Davon künden auch frühere Orchesterwerke wie die sinfonische Suite Antar, die 1868 in ihrer Urfassung als 2. Sinfonie gegeben wurde und eine arabische Erzählung von Leidenschaft, Macht und Liebe als Grundlage hat. Auch Scheherazade sind diese Qualitäten eigen, zumal der Komponist durch die Wahl des Titels die Konfliktbeziehung des Mächtigen und seiner Untergebenen in den Vordergrund stellt. Nach seinem Bekunden weisen "einige Einzelheiten der musikalischen Faktur darauf hin, daß alle diese Geschichten von ein und derselben Person erzählt werden - eben von Scheherazade, die damit ihren grausamen Gatten unterhält."





Instrumentalfarben als Seele der Komposition



In seiner Chronik erzählt Rimski-Korsakow, daß das Programm, das ihm bei der Komposition der Scheherazade vorschwebte, einzelne, nicht miteinander verbundene Episoden und Bilder aus Tausendundeine Nacht seien: "Sie sind in allen vier Sätzen der Suite verstreut: das Meer und Sindbads Schiff, die phantastische Erzählung des Prinzen Kalender, Prinz und Prinzessin, Festtag in Bagdad und das Schiff, das am Felsen mit dem ehernen Reiter zerschellt. Als verbindender Faden dienten mir die kurzen Einleitungen zum ersten, zweiten und vierten Satz und das Intermezzo im dritten, die für Violine Solo geschrieben sind und gewissermaßen die Scheherazade selbst darstellen, wie sie dem grausamen Sultan ihre wundervollen Märchen erzählt."

Die Fabel vom Sieg der Menschlichkeit über die Gewalt findet sich als eine die Geschichten verknüpfende Handlung in der weltberühmten Sammlung indischer, persischer und arabischer Erzählungen aus Tausendundeiner Nacht, die in Europa erstmals zu Beginn des 18. Jahrhunderts in einer französischen Übersetzung bekannt wurden. Während viele Künstler im Westen das exotische Ambiente des Ostens vor allem deshalb angeregt haben mag, weil es ein aufregendes, Ablenkung und Befriedigung verschaffendes Element in den tristen Alltag des technisierten und industrialisierten städtischen Lebens brachte, faszinierte Rimski-Korsakow die Rahmenhandlung: das Schicksal der Scheherazade selbst, die gefangen in einer von Vergeltung und Gewalt bestimmten Welt einfühlsam und geschickt um ihr Leben kämpft. Ihr Sultan Schahriar ist verbittert über die Treulosigkeit seiner ersten Gattin und verdammt alle weiblichen Wesen als unzuverlässig und falsch. Er nimmt Rache, indem er jede weitere Frau, die ihm zugeführt wird, nach dem Beischlaf in der ersten Nacht umbringen läßt. Als Scheherazade an die Reihe kommt, vermag sie als Märchenerzählerin stets die Neugier des Sultans auf neue Geschichten zu wecken. Dieser schiebt ihre Hinrichtung immer weiter hinaus, und nachdem Scheherazade dies über tausendundeine Nacht hindurch gelungen ist, hat sich die destruktive Einstellung des Sultans in Zuneigung, ja Liebe verwandelt. Schahriar macht Scheherazade zu seiner Sultanin.

Nach Auffassung Rimski-Korsakows war die Orchestrierung "ein Teil der eigentlichen Seele des Werkes". So ermöglichte es ihm insbesondere der orientalisch angehauchte Hintergrund der Erzählungen, eine umfangreiche Palette an instrumentalen Farben und Klangnuancen zu entfalten, womit er zugleich seinem Idol Michail Glinka Tribut zollen konnte.





"Wenn man mich einen Lyriker nennt, so bin ich stolz"



Durch Rimski-Korsakows von der slawischen Operndramaturgie geprägtes Verständnis, das eher rhapsodisch als auf Kulminationspunkte hin angelegt ist, fiel die Wahl auf vier miteinander nicht zusammenhängende Geschichten. Dabei stellt er mit musikalischen Mitteln Bezüge her und verarbeitet die Anregungen, die ihm das Sujet gibt, mit der poetischen Empfindsamkeit seines klangsinnlichen Ausdrucks in vier etwa gleich langen Sätzen. In einer späteren Neuausgabe nahm Rimski-Korsakow weder die ursprünglich vorgesehenen Satzbezeichnungen noch die zunächst eingefügten assoziativen Satztitel auf, weil er dem "unerwünschten Suchen nach einem allzu bestimmten Programm" vorbeugen wollte. Dadurch sollte die Musik selbst besser zur Geltung kommen. "Ich verfolgte nur die Absicht, indem ich das gegebene musikalische Material vollständig frei behandelte, in meiner viersätzigen Suite eine kaleidoskopartige Folge von orientalischen Gestalten und Bildern zu geben, die doch durch gemeinsame Themen und Motive eng miteinander verbunden sind", erklärte der Komponist. Nach eigenem Bekunden suche man demnach vergebens nach Leitmotiven. Auch wenn sich manche Motive wiederholen, so erscheinen sie häufig in neuem Licht, verleihen einem anderen Charakter, anderen Stimmungen, Gestalten, Handlungen, Bildern Ausdruck. So taucht etwa das Fanfarenmotiv des Prinzen Kalender aus dem zweiten Satz im vierten dann wieder bei der Schilderung des zerschellenden Schiffes auf, obgleich diese Episoden nichts miteinander gemein haben. Bei der Schilderung des Festes in Bagdad im vierten Satz erscheint das Hauptthema des Prinzen Kalender (h-Moll, 3/4-Takt) und das Thema der Prinzessin aus dem dritten Satz (B-Dur, 6/8Takt, nun in der Klarinette) jetzt in abgewandelter Gestalt und schnellerem Tempo als Seitenthema, obwohl von einer Teilnahme der beiden an dem bunten Treiben aus Tausendundeiner Nacht nichts bekannt ist. Der Einfluß Richard Wagners spielte für Rimski-Korsakow erst eine Rolle, als er ein Jahr nach der Uraufführung von Scheherazade Aufführungen vom Ring des Nibelungen durch Angelo Neumanns Ensemble unter Karl Mucks Leitung in St. Petersburg erlebte. Bis dahin war für ihn die transparente instrumentale Farbgebung des von Michail Glinka verwendeten Orchesters maßgebend, die ohne wuchtige, dicke Klangmischungen auskam. In den folgenden Jahren verwendete Rimski-Korsakow je nach Bedarf aber auch den durch die Instrumentation erzielten massiven "Verschmelzungsklang" des "Wagner-Orchesters". Diese Differenzierung hing mit seiner grundsätzlichen Haltung zur Musik zusammen. "Ich sage Ihnen, daß ich die Musik ihrem Wesen nach für eine lyrische Kunst halte", bekannte er einmal über sein Metier. "Und wenn man mich einen Lyriker nennt, so bin ich stolz."

Zwei Personenmotive durchziehen dennoch das ganze Stück und stellen den Bezug zur Grundidee her. Eine arabeskenhafte, von Harfenakkorden gestützte Melodie der Solovioline charakterisiert die zartfühlende, gebildete Scheherazade. Dem entgegen stehen die wuchtigen, bedrohlichen Akkorde, die das tyrannische Wesen des Sultans in Töne fassen. Beide Themen ziehen sich durch die Sätze, wobei Zustimmung und Mißbilligung des Sultans durch eine variable Behandlung seines Motivs gekennzeichnet werden.

In ihrer ersten Erzählung plaudert Scheherazade von Sindbad, dem Seefahrer, der mit seinem Schiff durch die Meereswogen gleitet und phantastische, kaum zu glaubende Abenteuer zu bestehen hat. Der Sultan meldet Zweifel an und unterbricht mehrmals mit ziemlich barschem Ton, doch am Ende des ersten Satzes verklingt sein Thema, von der reizenden Erzählerin besänftigt, im Piano.

Am zweiten Abend darf Scheherazade vom Prinzen Kalender berichten, einem Spaßvogel und Hansdampf-in-allen-Gassen, dessen Eulenspiegeleien mit abwechslungsreichen, turbulenten Tempo-, Takt- und metrischen Veränderungen geschildert werden. Der in einer freien dreiteiligen Liedform gestaltete Satz basiert auf einem orientalisch getönten Hauptgedanken - keiner authentischen Melodie -, der vom Solo-Fagott über den liegenden Quinten von vier gedämpften Solo-Kontrabässen eingeführt wird. Diese Melodie und eine Variante des Sultan-Motivs ziehen sich durch das immer lebhafter angetriebene Stimmengeflecht. Das beruhigte Motiv des Sultans in den Pizzikato-Bässen deutet an, daß Schahriar mit der abwechslungsreichen Schilderung zufrieden war.

Mit der dritten Geschichte, wie die erste in einer Sonatensatzform ohne Durchführung dargeboten, wird der Sultan zurückgeführt in die Zeit seiner Jugend. Scheherazade erzählt mit lyrisch-sehnsuchtsvollem Ausdruck, der von grazilen Bewegungen der Holzbläser umspielt wird, von einem jungen Prinzen und seiner kleinen Prinzessin. "Passionato", "brillante" und "cantabile" im Ausdruck fordert Rimski-Korsakow in diesem lyrischen, intimsten Teil seiner Suite.

Doch so einfach will sich der Sultan durch so viel Gefühl nicht einlullen lassen. Am vierten Abend muß Scheherazade ihr ganzes Geschick aufbieten, um den grausamen Machthaber zu besänftigen. Im dramatischen Schlußsatz wird zu Beginn mit üppiger Klangpracht das ausgelassene Festtreiben in den Straßen von Bagdad dargestellt. Die anschließende Schilderung von einem Schiff, das auf stürmischem Meer dem Magnetberg mit der riesigen Figur des ehernen Reiters mit der Lanze entgegentreibt, wo es zu zerschellen droht, führt dem Sultan gleichnishaft sein eigenes Los vor Augen: Auch er ist, geblendet durch den einstigen Betrug, in Vereinsamung, Abstumpfung und Haß dem eigenen Untergang geweiht, wenn er nicht beschließt, sein Leben zu verändern. Mit einer mächtigen Steigerung, bei der das Sultan-Motiv in den Posaunen aufklingt, beschreibt die Musik seinen Sinneswandel und vereint ihn im sanft aushauchenden Schlußteil musikalisch mit Scheherazade.

Rimski-Korsakows humanistische Grundhaltung und die Utopie, die seinen Werkkonzepten zugrunde lag, wurden in der Realität indes oft enttäuscht, weil das rücksichtslose Regime der russischen Herrscher sich nicht so leicht besänftigen ließ. "Wieviel Blut ist schon geflossen!" klagte Rimski-Korsakow noch 1906 in einem Brief an seinen Schüler und Freund Maximilian Steinberg. Auch wenn er sich in seinen späten Jahren als "großen Skeptiker" charakterisierte und "einen großen gemeinsamen Plan, der sich auf alle Kräfte stützt" vermißte, hinterließ er neben seinen Opern mit der Orchestersuite Scheherazade ein Dokument der Hoffnung auf den Triumph von Phantasie und Menschlichkeit über sinnlose Greueltaten.



Meinhard Saremba



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