Rachmaninoff: 3. Sinfonie



Konzert des Radio-Sinfonieorchesters Stuttgart


30./31. März 1995


Dirigent: Kurt Sanderling




Konzert der Dresdner Philharmonie


19. - 21. Januar 2007


Dirigent: Olari Elts






Heimatlos im Paradies


Sergei Rachmaninoff und seine 3. Sinfonie



Fast neun Jahre lang verstummte Sergei Rachmaninoff (1873-1943) als Komponist nahezu völlig, nachdem er im Dezember 1917 auf der Flucht vor Krieg und Revolutionschaos Rußland den Rücken gekehrt hatte und auf Umwegen in die USA gelangt war. Der Grund war der schiere Kampf ums Überleben: Um sich, seine Frau Natalja und die beiden Kinder versorgen zu können, forcierte der damals Vierund­vierzigjährige seine Karriere als reisender Klaviervirtuose. Zahllose umjubelte Auftritte, langjährige Geschäftsverbindungen mit der Kla­vierfirma Steinway & Sons, viele Platteneinspielungen und kräfterau­bende Konzerttourneen machten den Emigranten zu einem der be­deutendsten Pianisten unseres Jahrhunderts.

Wie schwer Rachmaninoff der Verzicht auf seine kompositorischen Ambitionen gefallen sein mag, kann man an den Bekundungen er­messen, daß "Komposition ein wesentlicher Teil meiner Existenz [ist] wie Atmen oder Essen. Es ist eine der notwendigen Lebensfunktio­nen. Mein ständiger Wunsch, Musik zu komponieren, ist tatsächlich der Drang in mir, meinen Gedanken tonalen Ausdruck zu verleihen." Gelegenheit dazu bot sich dem einst erfolgreichen Komponisten, Dirigenten und Pianisten nach der Emigration aber nur noch selten.

Nach­dem sich die Lage in der Alten Welt etwas beruhigt hatte, kehrte Rachmaninoff ab 1924 bis zum erneuten Kriegsausbruch 1939 zwar jährlich zu Besuchen und Konzertreisen nach Europa zurück; seine Heimat, in der unterdessen Stalin die Macht an sich gerissen hatte, sah er jedoch nie mehr wieder und ließ sich im vermeintlichen Paradies mit den unbegrenzten Möglichkeiten nieder. Höchstwahr­scheinlich teilte er kaum eine optimistische Einstellung wie die der Witwe des Schriftstellers Arthur Schnitzlers, die später jungen Emigranten mit den Worten: "Ja, wir haben eine Heimat verlo­ren, aber auch eine Welt gewonnen..." Trost zusprach. Zu vieles blieb Rachmaninoff fremd in der neuen Umgebung, deren Umgangssprache er nur unzu­reichend zu beherrschen lernte. "Je älter man wird, desto mehr verliert man das göttliche Selbstvertrauen, welches ein Schatz der Jugend ist... Es widerfährt mir sehr selten, aufrichtig zufrieden mit mir zu sein", klagte der Künstler, wobei er hinzufügte: "Und eine noch schwerere Last liegt auf meinen Schultern. Es ist das Bewußtsein, daß ich keine Heimat habe. Die ganze Welt steht mir of­fen, nur ein Platz ist mir verschlossen, und das ist mein eigenes Land, Rußland."

Da für Rachmaninoff die Genugtuung, die er durch seine Konzerte erfuhr in - wie er meinte - "materieller und auch in moralischer Hin­sicht nur begrenzt" blieb, lag nahe, daß er seinen Erfahrungen und seinen Empfindungen in dem Medium Ausdruck verlieh, das ihm am vertrautesten war: der Musik. Nachdem er in den ersten Jahren nach seiner Auswanderung neben einer Handvoll russischer Lieder höchstens effektvolle Bearbeitungen für seine Soloabende produziert hatte, so etwa "The Star-Sprangled Banner" für Klavier, zog er sich 1926 für ein Jahr vom Konzertpodium zurück, um die erste Fassung seines 4. Klavierkonzertes und "Drei russische Lieder" für Chor und Orchester fertigzustellen. Weitere neun Jahre vergingen, bevor er wieder seine sinfonische Stimme erhob. Nachdem seine 1. Sinfonie 1897 bei ihrer ersten (und bis 1945 einzigen) Wiedergabe unter der nachlässigen Orchesterleitung Glasunows ein Fiasko erlebt hatte, war 1908 in St. Petersburg seine überaus erfolgreiche 2. Sinfonie uraufge­führt worden. Im Geiste des von ihm verehrten Tschaikowski hatte Rachmaninoff auch verschiedene Orchesterfantasien und sinfonische Dichtungen gestaltet, wie Der Fels (1893), Die Toteninsel (1909), sowie die Chorsinfonie Die Glocken (1913).

Die Arbeit an der 3. Sinfonie, die Rachmaninoff am 18. Juni 1935 in der Schweiz begann, ging nur mühsam voran, da gesundheitliche Beeinträchtigungen ihn zu mehrfachen Unterbrechungen durch Be­handlungen zwangen. Überdies mußte er sich nach Fertigstellung des zweiten Satzes am 18. September auf die bevorstehende zehrende Konzertsaison vorbereiten. Erst als die erneuten Tourneestrapazen überstanden waren, konnte der 63jährige Musiker am 30. Juni 1936 den letzten Satz der 3. Sinfonie vollenden. "Beendet. Ich danke Gott", lautete der Stoßseufzer, den er am unteren Rand der Partitur festhielt.

Die Orchesterbesetzung des Werkes ist mit dreifachen Holzbläsern, vier Hörnern, drei Trompeten und Posaunen, Tuba, Pauken, Schlag­zeug, Celesta, zwei Harfen und Streichern ausgesprochen umfang­reich. Die Tonsprache Rachmaninoffs steht dabei ganz in der Tradi­tion seiner verlorenen Heimat. Für russische Musiker kommt der Melodie als Träger des musikalischen Gedankens besondere Bedeu­tung zu, und auch Rachmaninoff unterstrich: "Melodie ist Musik, die Hauptgrundlage der gesamten Musik!". Dies bestätigt beispielsweise die "Leitmelodie" des ersten Satzes, die sich zu einem ähnlichen Ohrwurm entwickelt wie die zündende Melodik des Allegro molto-Satzes aus der 2. Sinfonie.

Dem Kopfsatz der 3. Sinfonie liegt in groben Umrissen noch die klassische Sona­tensatzform zugrunde, jedoch besteht die Introduktion nur aus einem kurzen Motto-Thema. Exposition, Durchführung, er­neute Themenverarbeitung nebst Coda stehen hinter dem emotionalen Aus­druck zurück. Die beiden gegensätzlichen Gefühlsspannungen der Sinfonie prallen in dem aus Adagio und Scherzo kombinierten zwei­ten Satz aufeinander. Erneut erklingt das Motto-Thema zu Beginn des Adagio-Teils, der von einem skurrilen "Allegro vivace"-Tanz abge­löst wird bevor die Adagio-Stimmung in verkürzter und seltsam ver­schleierter Gestalt abermals beschworen wird. Der im Scherzo-Ein­schub angeklungene harte Rhythmus bestimmt auch das furiose Fi­nale. Frühere Themen scheinen erneut auf, und eine Andeutung auf das Dies irae bringt in den Schluß eine bedrängende Schattenwirkung ein.

Wenig verband Rachmaninoff mit den Musikern seines Gastgeber­landes, die sich in den 20er und 30er Jahren dem Jazz zuwandten oder in die Komponistenschmiede von Nadia Boulanger nach Paris pilger­ten, wo sich - so Virgil Thomson - "eine Art Kommandoeinheit zur Erstürmung reaktionärer Bastionen" for­mierte. Rachmaninoff hinge­gen war ein Künstler ohne übersteigertes Sendungsbewußtsein. "Ich empfinde keine Sympathie gegenüber Komponisten, die Werke mit vorgefaßten Formeln oder vorgefaßten Theorien schreiben. Oder gegenüber Komponisten, die in einem ge­wissen Stil schreiben, weil es modisch ist, so zu schreiben. Große Musik ist niemals auf diese Weise produziert worden - und ich wage zu sagen, wird es auch nie. Musik sollte, in der abschließenden Ana­lyse, Ausdruck der komple­xen Persönlichkeit des Komponisten sein", meinte er. "Die Musik ei­nes Komponisten sollte sein Geburtsland ausdrücken, seine Liebesaf­fären, seine Religion, die Bücher, welche ihn beeinflußt haben, die Bilder, die er liebt. Sie sollte das gesamte Produkt der Erfahrungen des Komponisten sein." In Bezug auf seine eigenen Werke bekannte Rachmaninoff, daß er nie bewußte Anstren­gungen unternommen habe, auf irgendeine Weise originell zu sein. "Ich schreibe auf dem Papier die Musik nieder, die ich in mir höre, so natürlich wie möglich. Ich bin ein russischer Komponist, und das Land meiner Geburt hat mein Temperament beeinflußt und meine Weltanschauung. Meine Musik ist das Produkt meines Tempera­ments, und so ist es russische Musik. Ich habe niemals intendiert, rus­sische Musik zu schreiben, oder irgendeine andere Art von Musik."

Somit bleibt die nach der "Neunten" von Antonín Dvorák zweite große "Sinfonie aus der Neuen Welt" die Sinfonie eines Europäers in den USA, wie übrigens auch Dvoráks Opus von 1893 mit seinen böhmischen Reminiszenzen durchaus eine gehörige Portion Heimat­verbundenheit erkennen läßt. Doch in der ersten Hälfte des 20. Jahr­hunderts etablierten sich in den USA die Nachfolger und die Nach­ahmer der Zweiten Wiener Schule sowie jene Künstler, die das Jazz-Idiom in ihre Werke integrierten. Zwar gab auch Rachmaninoff im kleinen Kreis gerne Jazz-Improvisationen zum besten - 1924 unter­stützte er sogar die Uraufführung von Gershwins Rhapsody in Blue -, dennoch blieb er stets darauf bedacht, seine Integrität als "seriöser" Musiker zu wahren. Zu diesem Image paßte es auch nicht, sich als Filmkomponist in Hollywood zu verdingen.

In dem Umfeld von importierter europäischer Klassik, Moderne und Jazz mußte nun Rachmaninoff mit seiner 3. Sinfonie einfach wie ein Fossil aus dem zaristischen Rußland auf die Amerikaner wirken. Dabei boten sich für die Uraufführung am 6. November 1936 durch­aus günstige Voraussetzungen. Das Philadelphia Orchestra galt zu­recht als eines der besten Orchester des Landes und der publikums­wirksame Leopold Stokowski hatte bereits wichtige Exilkompositio­nen Rachmaninoffs uraufgeführt - 1927 das 4. Klavierkonzert und 1934 die "Rhapsodie über ein Thema von Paganini". Stokowski, seit 1912 Chefdirigent in Philadelphia, hatte eine Vorliebe für üppigen Klang und Massenwirkung, sowie im Gegensatz zu Kussewitzki in Boston eine Abneigung gegen amerikanische Komponisten zugunsten einer Vorliebe für russische. Die Kritiker lobten in den Besprechun­gen zwar die gekonnte Satztechnik und die ausgefeilten Klangfarben, doch viele empfanden das Werk als steril und zu melancholisch. Bei der europäischen Erstaufführung unter Thomas Beechams Leitung in London beklagte man ein Jahr später sogar "das völlige Fehlen jener schmelzenden Melodien, die in Rachmaninoffs früheren Werken so reizvoll waren". Die russischen Emigranten zeigen sich allerdings für die Klangsprache sogleich empfänglich, doch Rachmaninoff verwahrt sich gegen jedwede einseitig "nationalistische" Ausdeutung. Vergli­chen mit der ungebrochenen Popularität der 2. Sinfonie stand die 3. Sinfonie Rachmaninoffs immer hintan. Laut einer Aufführungsstati­stik der US-Orchester erklang die "Dritte" bis 1970 in 25 Spielzeiten bei 16 verschiedenen Orchestern, während die "Zweite" ab 1911 von 26 amerikanischen Orchestern gut sieben Mal so häufig gegeben wurde. Zum eigentlichen amerikanischen Sinfoniker-Genie wurde schon 1939 Roy Harris mit seiner 3. Sinfonie gekürt. Rachmaninoff indes, der ein Jahr später in den Sinfonischen Tänzen eine Art musi­kalischer Bilanz seines Schaffens zog, vertraute bis zuletzt auf die ihm eigenen Ausdrucksmittel: "Die Zeit mag die Techniken von Mu­sik ändern, aber sie kann nie ihre Mission ändern..."



Meinhard Saremba




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