Elgar: 1. Sinfonie




Konzert des Radio-Sinfonieorchesters Stuttgart


28./29. Oktober 1999


Dirigent: Roger Norrington



(veröffentlicht auf CD bei Hänssler Classic CD 93.000)






Melancholie und Zuversicht


Edward Elgars 1. Sinfonie



Als Edward Elgar (1857-1934) im November 1930 seine erste Sinfonie auf elf 78er-Schellackplatten aufnahm, hatte er als Komponist seine größte Zeit hinter sich. Nach den Erfahrungen des Ersten Weltkriegs, nach dem Cellokonzert als seiner letzten bedeutenden Komposition und nach dem Tod seiner Frau Alice verlagerte er Anfang der zwanziger Jahre seine kreativen Energien und wurde zu einem der wichtigen Pioniere der Schallplatte und des Rundfunks. Elgar sei "kein großer Dirigent gemessen am höchsten professionellen Standard" gewesen, urteilte John Barbirolli, aber, so Adrian Boult, durch seinen "nervösen, elektrisierenden Schlag" zauberte er "unfehlbar eine Spannung und einen Glanz herbei, wodurch eine Klangqualität entstand, die man als im höchsten Maße persönlich erkannte". Somit konnte es Elgar kaum darum gehen, mit der eigenen Interpretation seiner Werke bis in alle Zeiten gültige Auslegungen zu schaffen. Während sich Georg Solti (1963) bei seiner Einspielung der Sinfonie noch Elgars Version als Modell genommen hatte, weichen die Deutungen von John Barbirolli (1963), Adrian Boult (1976) und Giuseppe Sinopoli (1992) deutlich davon ab, was gerade bei Barbirolli und Sinopoli in einzelnen Sätzen zu Unterschieden von bis zu viereinhalb Minuten von Elgars "Vorgabe" führt. Dies verweist nicht nur darauf, dass Elgars Angaben in der Partitur einen gewissen Gestaltungsspielraum einräumen und keineswegs nur den Rahmen für ein brillantes orchestrales Feuerwerk abstecken. In Elgars sinfonischem Erstling wird die gesamte Farbpalette des Orchesters zum Funkeln gebracht sowie eine Ausdrucksvielfalt und inhaltliche Substanz in Klänge gefasst, die ein Interpret allein unmöglich auszuschöpfen vermag.



Später Ruhm, lange Lebenserfahrung



Zu dem Zeitpunkt als Elgar sich im Juni 1907 mit seinem Opus 55 erstmals an ein sinfonisches Werk wagte, war er erst wenige Monate zuvor zu seinem 50. Geburtstag geehrt worden. Erst seit dem 19. Juni 1899, dem Tag der Uraufführung seiner Enigma Variations, war er ein berühmter Mann. Die Anerkennung kam ziemlich spät für den Sohn eines protestantischen Musikalienhändlers und einer römisch-katholischen Mutter. Als Spross eines zu dieser Zeit nicht gerade angesehenen Berufsstandes wuchs der seit William Byrd erste katholisch geprägte englische Musiker von Rang fernab des internationalen Kultur- und Handelszentrums London in der Kleinstadt Worcester auf. Doch auch hier hatte der "Provinzler" Elgar Gelegenheit, an einem reichen Musikleben Teil zu haben, gehört doch Worcester neben Gloucester und Hereford noch heute zu den Ausrichtern des Three Choirs Festivals, dem ältesten, traditionsreichsten Musikfest der Welt. Und so entwickelte sich mit Elgar der letzte bedeutende Komponist, der mit der Chortradition der Arbeiterklasse in den Industriebezirken Großbritanniens aufwuchs. An diese Entwicklung knüpft der zu Beginn des neuen Jahrhunderts nicht nur von Richard Strauss gewürdigte Elgar in seinen umfangreicheren Kantaten der ersten Schaffensphase und später mit den großen Oratorien The Dream of Gerontius (1900), The Apostles (1903) und The Kingdom (1906) an.

Wirklich zufrieden war Elgar trotz seiner wachsenden Bekanntheit jedoch nicht. "Meine Sachen sind unter Musikern erfolgreich, aber die Leute kaufen sie nicht", klagte der Komponist häufig. Er wollte mehr als nur mit freundlichen Worten und höflichem Applaus abgespeist zu werden. Nicht zufällig entstanden so neben seinen umfangreichen Großkompositionen auch zahlreiche auf Popularität abzielende Miniaturen für Kammerbesetzung und Orchester, darunter Salut d'amour und die Pomp and Circumstance-Märsche. Allerdings war er der Öffentlichkeit vor allem dann willkommen, wenn man sein Werk als Aushängeschild für die Kreativität eines Landsmanns feiern konnte.

Als Elgar, der sich fast zehn Jahre lang mit dem Gedanken an eine Sinfonie trug, Mitte 1907 die ersten Skizzen für seine "Erste" festhielt, befand er sich in einer schwierigen Phase der Neuorientierung. Die Oratorien hatten keinen finanziellen Erfolg gebracht, beim Kultur-Establishment hatte er sich bei Gastvorlesungen an der Universität Birmingham durch seine klaren Worte über den Konservatismus des britischen Musiklebens unbeliebt gemacht, nun war er noch durch Grippe geplagt und durch Depressionen geschwächt. Elgar konnte nur mit Mühe neue Energien aufbringen und bastelte zunächst einmal an einer Suite mit Jugendkompositionen, The Wand of Youth, herum. Das Grundproblem von Elgars Stimmungsschwankungen lag tief verborgen. "Er fühlte sich als eine Art sozialer Paria gebrandmarkt", charakterisierte später eine Bekannte die Situation. "Darin wurzelt der Grund seiner tiefen inneren Frustration. Sein einziger Ehrgeiz bestand darin, große Musik zu schreiben, aber er wusste, dass ihn das Unterrichten und Spielen nie das Geld und die Freizeit einbringen würde, um Komponieren zu können. Diese psychologische Zwickmühle hatte er noch dadurch kompliziert, dass er eine Frau geheiratet hatte, die einer sozialen Schicht angehörte, die von der Klasse der Geschäftsleute eine Kluft trennte, die man sich heute nicht mehr vorstellen kann. Nie gab es einen klareren Fall des 'Wenn-Du-sie-nicht-schlagen-kannst,-werde-einer-von-ihnen'. Aber das Ergebnis war verheerend für Elgars Psyche. Er war übersensibel und ein Künstler, und so trug er schwere Wunden davon. Diese verdeckte er durch seine äusserliche Fröhlichkeit und indem er den Eindruck erweckte, dass er nur durch Zufall Musiker geworden war." Vor diesem Hintergrund ist der vielfach melancholische Unterton und der mitunter grimmige Humor in Elgars Werken zu sehen.



"...die größte Sinfonie unserer Zeit!"



Nachdem Alice Elgar am 27. Juni 1907 in ihrem Tagebuch vermerken konnte: "E. spielt eine große, schöne Melodie" - die spätere Einleitung - dauerte es noch fünfzehn Monate bis zur Vollendung des Werkes. Gleichzeitig beschäftigten Elgar Überlegungen zu einem von dem Virtuosen Fritz Kreisler bestellten Violinkonzert und einem Streichquartett für das Brodsky-Quartett. Nach seiner dritten Amerikatournee und Erholungsreisen in Italien stürzte er sich dann konzentriert auf die Arbeit und wimmelte lästige Aufgaben so gut es ging ab. Selbst einen der engsten Vertrauten, seinen Lektor August Jaeger, ließ er wissen: "Ich kann augenblicklich Ihren Brief nicht beantworten. Ich kann nicht sagen, dass ich etwas Wichtigeres zu tun habe, aber es muss gemacht werden und zwar jetzt. Oh, was für eine Melodie!" Durch seine Frau wurde übermittelt, die entstehende Sinfonie sei in As-Dur, absolut herrlich und voller Schönheiten.

Davon konnte sich das Publikum Ende des Jahres selbst überzeugen. Nachdem das Werk Ende September fertig gestellt war, begannen zwei Monate später die Proben mit dem Hallé Orchestra in Manchester. Die Uraufführung am 3. Dezember 1908 unter der Leitung von Hans Richter, dem das Werk auch gewidmet ist, wurde einer der größten Abende in Elgars Laufbahn. Ungeachtet der Sinfonien von Briten wie Sullivan, Stanford und Parry in den zurückliegenden Jahrzehnten, markierte Elgars Werk den endgültigen Durchbruch für die englische Sinfonik. Das Werk wurde als eine wahre Erlösung gefeiert! Es sei "das Edelste, das je von einem englischen Komponisten zu Papier gebracht wurde", hieß es in der Presse, und tatsächlich spielten sich bei der Uraufführung fast unglaubliche Szenen ab: Das völlig faszinierte Publikum in Manchester brach schon nach dem langsamen Satz in begeisterten Applaus aus, so dass sich der Dirigent zu einer ganz unerwarteten Geste veranlasst sah: "Dr. Richter neigt sonst nicht dazu, eine Komposition zu unterbrechen", beschreibt der Berichterstatter des Manchester Guardian den Abend, "und die Tatsache, dass er den Komponisten ermutigte aufs Podium zu kommen und den Beifall entgegen zu nehmen mag als sicheres Zeichen dafür genommen werden, wie auch er spürte, in diesem Satz sei etwas, das ganz besonders der Anerkennung bedarf, etwas überaus Schönes." Kurz darauf fiel bei den ersten Proben mit dem London Symphony Orchestra die von glaubwürdigen Ohrenzeugen überlieferte Bemerkung Hans Richters: "Gentlemen, lassen Sie uns nun die größte Sinfonie unserer Zeit proben, die vom bedeutendsten heute lebenden Komponisten geschrieben wurde." Im Kontrast dazu stellte das Werk für den Delius-Förderer Thomas Beecham "das musikalische Pendant zur St. Pancras Bahnstation" in London dar.

Doch der gewaltige Erfolg der Uraufführung setzte sich fort, denn Elgars 1. Sinfonie trat einen wahren Triumphzug durch die Konzertsäle der Welt an. Allein 1909 kam es zu über hundert Aufführungen unter anderem in den USA, Wien, Berlin, Bonn, Leipzig, St. Petersburg und Sydney. "Ich erhalte einen Haufen Briefe von bekannten und unbekannten Leuten, die mir mitteilen, wie sehr sie [die Sinfonie] ihre Stimmung hebt", schrieb Elgar. "Ich wünschte, sie würde auch meine Stimmung heben   ich habe gerade die Miete, Grundsteuer, Einkommensteuer und eine Reihe anderer Dinge, die heute fällig waren, bezahlt, und es stehen noch Kinder an der Tür, deren Mäuler gestopft sein wollen."



Zwischen Depression und Hoffnung



Nach den Inhalten seines neuen Werkes befragt, ließ Elgar wissen: "Es gibt kein Programm jenseits der weit gefassten Erfahrung menschlichen Lebens, verbunden mit einer großen (Nächsten-)Liebe und einer massiven Hoffnung auf die Zukunft." Bereits in seinen Birminghamer Vorträgen hatte Elgar postuliert, dass "die Sinfonie ohne Programm die höchste Entwicklung der Kunst" sei. Nun bewies er selbst seine Meisterschaft in einer Kunstgattung, die um die Jahrhundertwende vielfach als veraltet galt. Elgars Sinfonik ist klangdramaturgisch von großer Wirkung, dennoch bleibt sie "reine" Musik. Für aussermusikalische Bedeutungszuweisungen hatte Elgar ebensowenig übrig wie später Vaughan Williams, der an Elgar anknüpfend, zusammen mit Walton, Rubbra, Bax, Tippett und Maxwell Davies die englische Sinfonie im 20. Jahrhundert zu neuen Höhepunkten führte.

Harmonisch ungewöhnliche Wendungen, unvermittelte Tempowechsel, eine energische Rhythmik und mitunter abrupte dynamische Abstufungen prägen Elgars 1. Sinfonie. Trotz scharfer musikalischer Gegensätze im Verlauf des fast einstündigen Werkes bleibt das Eingangsthema als eine Art "idée fixe" stets gegenwärtig und mündet schließlich in ein Finale, das an die Vitalität der Enigma Variations erinnert. Das verbindende Element der viersätzigen Sinfonie bildet vor allem die emotionale Spannung, die durch eine freie Ausgestaltung rhapsodischer Passagen gekonnt durchgehalten und zu immer neuen Höhepunkten geführt wird. So ist das deutungsträchtige, marschartige Einleitungsthema zur As-Dur-Sinfonie musikalisch ein Hymnus, kontrastiert durch ein zweites Thema im entlegenen d-Moll. Dieses unvermittelte Nebeneinander der Tonarten soll auf eine Wette zurückgehen, dass es Elgar nicht möglich sei, eine Sinfonie in zwei Tonarten gleichzeitig zu komponieren.

Im zweiten Satz (in fis-Moll) versagt sich Elgar die Bezeichnung "Scherzo", um falschen Assoziationen vorzubeugen. Das "Allegro molto"-Drängen wirkt vielmehr ruhelos, unterbrochen von einem ruhigen B-Dur-Mittelteil, bei dem Elgar die Orchestermusiker bat, ihn zu spielen, "wie etwas, das Sie unten am Fluss hören". Einer der Höhepunkte nicht nur in Elgars Werk, sondern der gesamten sinfonischen Literatur ist der ungemein ausdrucksvolle, getragene dritte Satz ("Molto espressivo e sostenuto"). Dieses "Adagio" gemahnt an die Stimmung der berühmten "Nimrod"-Variation aus den Enigma Variations und doch ist sein Hauptthema Note für Note eine Übernahme des impulsiven Hauptthemas des vorangegangenen Satzes, dem nun völlig andere Nuancen abgewonnen werden.

Im dreiteiligen Finale (Lento - Allegro - Grandioso), das in d-Moll einsetzt, werden Motive und Stimmungen der vorangegangenen Sätze wieder aufgegriffen. Gerade der Schlusssatz bietet - ungeachtet der melancholischen Zwischentöne der vorangegangenen Teile - eine Ahnung von Elgars "massiver Hoffnung auf die Zukunft", die in der 1911 uraufgeführten 2. Sinfonie nicht mehr zu finden sind. Empfand Alice Elgar das Ende der 1. Sinfonie als "triumphalen Sieg für die bedeutenden Menschenrechte", war das Publikum durch die eher düstere Tonsprache des neuen Werkes verstört und reagierte kühl. Folgeaufführungen waren längst nicht so zahlreich wie bei der "Ersten" und obwohl Elgars 2. Sinfonie - die, so Elgar, "leidenschaftliche Pilgerschaft einer Seele" - musikalisch nicht weniger gehaltvoll ist als die 1., hat das Werk bis heute den schwereren Stand.

Die Generation der zwanziger und dreissiger Jahre vermochte mit Elgars Tonsprache wenig anzufangen und fegte mit schneller Feder ein ganzes Lebenswerk beiseite. "Der aggressive edwardianische Wohlstand, der Elgars Finali einen so bequemen Hintergrund gibt, ist für uns jetzt ebenso fremd wie das England, das Greensleeves hervorgebracht hat", urteilte Constant Lambert apodiktisch. Doch Elgars Musik ist weit davon entfernt, lediglich ein Relikt versunkener Epochen zu sein. Sie ist Ausdruck einer bestimmten psychischen Befindlichkeit und stark beeinflusst von den seelischen Stimmungen, die geweckt werden durch die Natureindrücke von Elgars Heimat Worcestershire mit dem idyllischen Fluss Severn und den malerischen Malvern Hills, den umliegenden Städtchen und Dörfern, ihrer Hausarchitektur und den imposanten Kathedralen. Ein Freund Elgars erinnerte sich an einen Spaziergang, bei dem der Komponist vor sich hinsummte, musikalische Themen notierte und "erzählte, dass er musikalische Tagträume habe in der gleichen Weise wie andere Leute Tagträume von Heldentaten oder Abenteuern haben, und dass er nahezu jeden Gedanken, der ihm in den Sinn kommt, mit musikalischen Mitteln auszudrücken vermag." Musik war Elgars Lebenselixier. "Musik ist in der Luft um uns herum, man braucht sich nur so viel davon nehmen, wie man haben will", lautete seine Einstellung bis zuletzt. Als er am 23. Februar 1934 an Krebs starb, hinterließ er Skizzen zu einer geplanten 3. Sinfonie. Dass sein Vermächtnis, sich musikalisch auszudrücken, noch heute die Fantasie beflügeln kann, beweist die Vollendung der Partitur im Jahre 1998 durch den Komponisten Anthony Payne, der einfühlsam an den Geist der Elgarschen Tonsprache anknüpft, wie man sie aus Werken wie der 1. Sinfonie kennt.



Meinhard Saremba



Webseite der Elgar Society: www.elgar.org




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