Sibelius: 5. Sinfonie




Konzert des Radio-Sinfonieorchesters Stuttgart


12. - 14. Februar 2002


Dirigent: Massimo Zanetti



Konzert der Dresdner Philharmonie


4. - 5. November 2006


Dirigent: Maximiano Valdés



Konzert des Staatstheater Braunschweig


21. - 22. Januar 2007


Dirigent: Jonas Alber






... dieses Aushämmern der ethischen Linie!“

Der Sinfoniker Jean Sibelius und seine „Fünfte“


Die beiden Künstler, die im November 1907 in der Umgebung von Helsinki in Gespräche vertieft lustwandeln, debattieren über nichts Geringeres als das wahre Wesen der Sinfonie. Gustav Mahler beehrt die finnische Hauptstadt als Dirigent – einer seiner Gastgeber ist Jean Sibelius. Letzterer ist schon mit Anfang 40 eine lebende Legende, ja der Finnen ganzer Stolz, obwohl Mahler für den „nationalen Pudding“, den der Mann aus der Provinzstadt Hämeenlinna in seinen Kompositionen anrührt, wenig übrig hat. Auf den Spaziergängen habe man „alle großen Fragen der Musik auf Leben und Tod diskutiert“, äußerte Sibelius später. „Als unser Gespräch auf das Wesen der Sinfonie kam, warf ich ein, dass ich deren Strenge und Stil und die tiefe Logik bewundere, die einen inneren Zusammenhang zwischen allen Motiven schaffe. Das entsprach den Erfahrungen, die ich bei meinem Schaffen gemacht hatte; Mahler aber war ganz anderer Meinung: 'Nein, die Sinfonie muss wie die Welt sein. Sie muss alles umfassen.'“ Auf Mahlers Frage, ob er etwas von Sibelius' Musik aufführen solle, entgegnete dieser entschieden mit „Nein!“.

In seinen rein instrumentalen Sinfonien stellte sich Sibelius dem Problemlösungsprozess des Komponierens mit originellen musikalischen Themen, sparsamer Orchestrierung, erfindungsreicher Harmonik und differenzierter Rhythmik. Dabei hat der Finne an keinem anderen Werk wie seiner 5. Sinfonie in Es-Dur – immerhin schon sein Opus 82 – so intensiv an der endgültigen Form gefeilt.


Ein Mythos zu Lebzeiten

Mit Jean Sibelius (1865-1957) erhielt das finnische Kulturleben einen Gipfelstürmer zum richtigen Zeitpunkt. Bis in die achtziger Jahre des 19. Jahrhunderts hinein gab es noch nicht einmal in der Hauptstadt ein regelmäßiges Orchester, bis Sibelius' Freund Robert Kajanus (1857-1933) im Jahre 1882 in Helsinki eine Orchestervereinigung gründete – das erste Profiorchester Nordeuropas, das 1914 mit einem anderen Klangkörper zum „Städtischen Orchester Helsinki“ fusionierte, als viele der deutschstämmigen Musiker eingezogen wurden.

In weiser Voraussicht beschloss der ehrgeizige, zweiundzwanzigjährige Sibelius nach dem Vorbild eines verstorbenen Onkels seine Vornamen Johan Julius Christian (kurz Janne genannt) in der gallischen Form „Jean“ zu internationalisieren, was ihm zudem ermöglichte, die Visitenkarten seines Verwandten zu verwenden. Nach Studienaufenthalten in Berlin und Wien brachte er, inspiriert vom nordischen „Kalevala“-Mythos, zusammen mit Kajanus 1892 seine sinfonische Dichtung „Kullervo“ heraus. Die Uraufführung war eine Sensation zu einer Zeit als Finnland – Jahrhunderte lang Zankapfel zwischen Schweden und Russland – nur russische Provinz war und seine Einwohner um ihre Sprache und kulturelle Identität rangen. Selbst der vaterlos aufgewachsene Sibelius lernte Finnisch erst mit acht Jahren, als er auf Schulen geschickt wurde, in denen nicht Schwedisch und Latein, sondern Finnisch die Hauptsprache war. Kompositionen wie „Finlandia“ (1899) geben Zeugnis von seiner patriotischen Haltung. Die eingängigen ersten drei Sinfonien (1898-1907), inspiriert von der Begegnung mit Bruckner, sowie das Violinkonzert (1904/05) ließen ihn zu einem der begehrtesten Künstler für Musikverlage werden – schließlich machte das deutsche Verlagshaus Breitkopf & Härtel das Rennen. Lange vor seiner ersten Tourneereise in die USA im Jahre 1914 war Sibelius bereits Menschen bekannt, die kaum wussten, wo Finnland auf der Landkarte zu finden war.

Mit der 4. Sinfonie (1910-11) zeichnet sich ab, dass nach den extrovertierten Werken der Anfangsjahre die Erkundungsreise zu neuen Ufern des sinfonischen Ausdrucks Sibelius wichtiger ist als das Bedienen bestimmter Erwartungshaltungen. In einer Zeit, als Schönberg und Strawinsky neue Tendenzen prägen, muss er seinen Platz in der Musikwelt neu definieren. Nach einer Operation wegen Kehlkopfkrebs im Jahre 1908 wird die Klangsprache herber: Von der expressionistisch-enigmatischen „Vierten“, mit der er – so der Komponist – „nur kaltes Wasser“ bot, führt der Weg folgerichtig zu den organischen Entwicklungen und thematischen Metamorphosen der 5. Sinfonie. Auch der Schock des Ersten Weltkriegs saß tief. „Diktatur und Krieg widern mich an“, sagte der alte Sibelius. „Ich hatte niemals im Ernst geglaubt, dass Europas größte Nationen Krieg gegeneinander anfangen könnten [...] Anfangs war man – und auch ich – der Meinung, der Krieg werde höchstens drei Monate dauern. Deshalb ging einem die ganze Tragik des Geschehens gar nicht so auf, wie es nötig gewesen wäre.“ Die düsteren Erfahrungen haben in der Musik ihre Spuren hinterlassen. Nicht allen behagte die Ausweitung des Klangspektrums, doch die mitunter harsche Kritik prallte an Sibelius ab. „Achtet nicht darauf, was die Kritiker sagen – für einen Kritiker ist noch nie ein Standbild errichtet worden“, pflegte er zu sagen.


Ein Sklave seiner Themen

In dieser Zeit gewinnt allmählich das Bild Konturen, das in seinem Refugium „Ainola“ (benannt nach seiner Frau Aino, 1871-1969) in Järvenpää – vierzig Kilometer nördlich von Helsinki – gedrehte Filmaufnahmen und Fotos dokumentieren: Jenes des grimmig dreinschauenden Meisterkomponisten mit dem Granitschädel, unnahbar und unergründlich. Der Dirigent Eugene Ormandy, einer seiner „Propheten“, bezeichnete ihn als „den sensibelsten, scheuesten Menschen, dem ich je begegnet bin“. Dabei war dieser grausam selbstkritische, überaus nervöse, von Depressionen und Selbstzweifeln geplagte und zum exzessiven Trinken neigende Künstler bis in die zwanziger Jahre des letzten Jahrhunderts hinein auch für einige Jahrzehnte als Dirigent von hohen Gnaden berühmt. Dokumentiert ist seine Dirigententätigkeit indes lediglich in einem Mitschnitt seines „Andante festivo“ vom Januar 1939, zu dem ihm sein amerikanischer Förderers Olin Downes von der „New York Times“ überredete. Ungeachtet zahlreicher Konzerttourneen im In- und Ausland sah sich Sibelius in erster Linie als Komponist, solange es seine schöpferische Energie zuließ. „Die Herbstsonne scheint, die Natur zeigt sich in ihren Abschiedsfarben. Mein Herz scheint voller Trauer, die Schatten werden länger“, lautet eine bezeichnende Stelle in seinen Aufzeichnungen. „Wie kann ein armer Mensch wie ich solche reiche Augenblicke haben? Mir ist ein wunderschönes Adagio für die 5. Sinfonie eingefallen – Erde, Gewürm und Leid. Fortissimos und gedämpfte Streicher, sehr gedämpft. Und die Klänge sind göttlich. Ich hatte meine wahre Freude an dem Brausen der Streicher wenn die Seele singt. Wird meine Selbstkritik diese zarte Eingebung zerstören?“ Sibelius skizzierte seine Themen in tonalen Motiven und arbeitete dann viele verschiedene Kombinationsmöglichkeiten aus. Ihm war, „als ob Gott einige Steinchen zu einem Mosaik herabgeworfen habe und nun bat, sie wieder richtig zusammenzufügen“. Skizzenblätter in der Universitätsbibliothek Helsinki belegen, dass die 5. bis 7. Sinfonie zusammen konzipiert worden sein müssen. In den Manuskripten sieht man Melodien aus diesen Werken unmittelbar nebeneinander stehen. „Es scheint, als sollte ich mit allen diesen drei Sinfonien auf einmal hervortreten“, schrieb Sibelius. „Wie immer ist das Skulpturelle stärker hervortretend in meiner Musik. Deshalb dieses Aushämmern der ethischen Linie, das mich ganz in Anspruch nimmt.“ Bezeichnenderweise lässt sich der Entstehungsprozess der anschließend zügig entstandenen 6. Sinfonie kaum an eigenen Skizzen nachvollziehen. „Wie immer bin ich ein Sklave meiner Themen und unterwerfe mich ihren Forderungen“, konstatierte Sibelius zu seiner Arbeitsweise. „Aus allem ersehe ich, wie mein Innerstes sich in den Zeiten der 4. Sinfonie geändert hat. Und diese Sinfonien sind ja doch mehr Glaubensbekenntnisse von mir, als meine anderen Werke.“ Die „Fünfte“ leitet den Höhepunkt seines sinfonischen Schaffens ein. „Er habe „alles dilettantische Politisieren“ immer gehasst, bekannte Sibelius. „Ich habe versucht, meinen Einsatz auf andere Art und Weise zu leisten.“ Nach den „Jahren unsäglichen Elends“ – bei denen Sibelius vierzig Pfund abnahm – war mit der Vollendung der 7. Sinfonie 1924 seine kreative Energie fast versiegt. „Die Anforderungen an einen selber sind mit den Jahren gestiegen; deshalb soll niemand glauben, das Komponieren sei leichter für einen alten Komponisten“, klagte Sibelius. Mit einer lange angekündigten 8. Sinfonie hielt er Stardirigenten wie Kussewitzky und die Musikwelt Jahre lang hin. Das sagenumwobene Werk gelangte nie an die Öffentlichkeit. Als Grund nannte Sibelius, dass „der bloße Gedanke an Tyrannei und Unterdrückung, Sklavenlager und Menschenverfolgung, Zerstörung und Massenmord“ ihn „seelisch und physisch krank“ machte. Hinzu kam, dass er seinen in den zwanziger Jahren erlangten künstlerischen Ruf nicht mehr gefährden wollte. Finanziell brauchte er sich keine Sorgen zu machen – ein im August 1927 im Parlament verabschiedetes Gesetz zum Copyright auf geistige Produkte sicherten regelmäßig hohe Tantiemen. Wahrscheinlich hat er die weitgehend fertiggestellte „Achte“ 1945 zusammen mit anderen Manuskripten verbrannt.


Im Laboratorium des Sinfonikers

Zweifellos ist die Nummer „Fünf“ eine magische Zahl für einen Sinfoniker. „Ich war unschlüssig, ob ich mich zur Fünften durchringen sollte“, räumte Sibelius ein. „Ich habe viel darunter zu leiden gehabt, dass ich mich darauf versteifte, Sinfonien zu komponieren in einer Zeit, in der so gut wie alle Tonsetzer zu anderen Ausdrucksformen übergegangen waren.“ Seine 5. Sinfonie erlebte insgesamt drei Erstaufführungen. Das Werk wurde noch vor dem Ersten Weltkrieg konzipiert, erfuhr aber zwei Revisionen, sodass die endgültige Fassung erst nach der Oktoberrevolution in Russland und dem aus den Unruhen resultierenden Bürgerkrieg in Finnland bis zum Herbst 1919 vollendet wurde.

Die Version, die der Komponist am 8. Dezember 1915 zu seinem 50. Geburtstag in Helsinki präsentierte, wurde ein Jahr später in neuer Form auf die Probe gestellt. Die Bearbeitung im Herbst 1916 bezweckte „eine inhaltsmäßig und formal noch stärkere Konzentration“, doch nach der Premiere war Sibelius noch keineswegs zufrieden. Die heute gängige Fassung konnte er erst ausarbeiten, als die Krisenjahre, in deren Folge Finnland im Dezember 1918 die Unabhängigkeit erlangte, und der Verlust seines Freundes und Gönners Axel Karpelan (1858-1919) überwunden waren. Mit großem Erfolg wurde am 24. November 1919 in Helsinki die „5. Sinfonie in neuer Gestalt“ gespielt. „So gut wie neu komponiert“, sagte Sibelius.

Das Werk bietet mit seiner Verflechtung von formaler Anlage, polyphoner Verästelung und melodischer Entwicklung bis hin in orchestrale Details eine abwechslungsreiche Entdeckungsreise in seinen sinfonischen Kosmos. Ein Vergleich der Urfassung mit der Endversion – durch eine Einspielung des finnischen Dirigenten Osmo Vänskä für jedermann leicht nachvollziehbar – zeigt, wie Sibelius sein betont „völlig instinktives“ Arbeiten frei von Termindruck in neue Bahnen lenkt und einen spröden, mitunter diffusen Tongiganten zu einem gut vier Minuten kürzeren, akzentuierteren Klangmosaik umgestaltete. Die ersten beiden Sätze des Originals werden zu einem verbunden, wobei 64 Takte des ursprünglichen Scherzos wegfallen, und das Finale wird von 679 auf 482 Takte gekürzt. Tempoangaben sind verändert und präzisere Spielanweisungen (Ritardandi, Accelerandi usw.) erhöhen die Flexibilität der Gestaltung. Die Instrumentierung ist prägnanter und ausgefeilter – die Bassklarinette fehlt nun völlig; sie taucht jetzt nur noch in der 6. Sinfonie auf. Ungewöhnlich ist der späte Einsatz der Streicher zu Beginn, nachdem es längere Zeit Horn und Holzbläsern überlassen bleibt, eines der Hauptmotive der Sinfonie vorzustellen. Während einige Stellen im langsamen Teil des Kopfsatzes ursprünglich einen eher melancholischen Einschlag hatten, sind die Ideen in der revidierten Fassung schärfer umrissen, steigern die Erwartung und verweisen auf den Allegro moderato-Teil. Das Kombinieren der Sätze fiel aufgrund ähnlichen melodischen Materials leicht. Im Scherzo-Abschluss sind pastorale Elemente getilgt, auch hat die allmähliche Temposteigerung keine Entsprechung in der unvermittelt endenden, rhythmisch zerklüfteten Originalfassung. Im langsamen Satz ist das aparte Wechselspiel von Streicherpizzicati und Holzbläsern subtiler ausgearbeitet als in der Erstpartitur. Die Pizzicati wurden rediziert, an ausgedünnten Stellen mit anmutigen melodischen Verläufen der Bläserstimmen unterfüttert und anstatt mit harmonisch nicht aufgelösten Pizzikati auszutröpfeln endet der Satz im einem spannungsvoll dichten musikalischen Gewebe. Während das Finale in der Urfassung noch zahlreiche Abschweifungen von den musikalischen Hauptgedanken enthielt, ist die Fassung von 1919 stringenter und fokussiert die Entwicklung auf „eines der größten Erlebnisse meines Lebens“, wie es Sibelius nannte: Sechzehn Schwäne, die im April 1915 über ihm kreisten und „in der verschleierten Sonne wie ein glitzerndes Silberband“ verschwanden. „Ihre Rufe hatten denselben Holzbläserklang wie die der Kraniche, aber ohne Tremolo“, heißt es im Tagebuch. „Das Mysterium der Natur, die Melancholie des Lebens! Das Finalthema der fünften Sinfonie!“ Und so gipfelt das Werk in einer grandiosen Hymne. „Das Ganze“, meinte Sibelius, „eine, wenn ich so sagen darf, vitale Steigerung gegen den Schluss hin. Triumphal.“ Das Ende ist nun so ungewöhnlich wie der Beginn: Ohne das Fundament eines Streichertremolos (wie in der ersten Version) ertönen nur noch unbegleitet sechs trocken-harte Schlussakkorde (in Viertelnoten; 1915 waren es fünf Halbe, 1916 nur zwei). „Die letztliche Gestaltung eines Werkes hängt von Mächten ab, die stärker sind als man selber“, äußerste der Komponist. „Hinterher kann man dies und jenes feststellen, im großen und ganzen aber ist man nur ein Werkzeug. Und diese wunderbare Logik – wir mögen sie Gott nennen – die ein Kunstwerk beherrscht, ist ja doch das Entscheidende.“ Sibelius' „Geheimrezept“, wie man zu dieser Logik gelangt, ist belegt in einem einzigartigen Tondokument, einem Interview vom Dezember 1948, aufgenommen in „Ainola“, das zum 83. Geburtstag des Komponisten im Rundfunk gesendet wurde. Auf die Frage, was er einem jungen Komponisten, der ihn um Rat bäte, mit auf den Weg geben würde, entgegnete Sibelius: „Schreibe nie eine unnötige Note, denn jede Note sollte ihr eigenes Leben haben.“


Meinhard Saremba



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