Sullivans Salon und Wohnzimmer

 

Arthur Sullivans Wohnzimmer

 

 

Sullivans Rede „Über Musik“

 

 

Birmingham, 19. Oktober 1888


Mir wurde das Glück zuteil, zu Ihnen als Vorsitzender des Birmingham und Midland Instituts sprechen zu können, und natürlich habe ich die Musik als Thema gewählt. Ich kann kein anderes wählen. Seit ich acht Jahre alt war, habe ich mich unablässig mit Musik beschäftigt. Meine ganze Energie, meine ganze Liebe habe ich ihr geschenkt, und sie ist mir schon seit langem in Fleisch und Blut übergegangen. Der Reiz und die Triumphe meiner Kunst sind mir lieber als sonst irgendwelche anderen Reize und Triumphe. Die Musik ist mir eine Geliebte in des Wortes vollster Bedeutung; eine Geliebte, deren Befehlen ich Folge leiste, deren Gunst ich liebe und deren Sünden mich mehr bewegen als andere. Aus diesem Grund wird es Ihnen nicht schwer fallen, meine Freude zu verstehen, mit der ich zu Ihnen in dieser bedeutenden Stadt spreche; einer Stadt, die England erstmals ein Beispiel gegeben hat, wie man die Triumphe der angewandten Wissenschaft mit denen der Kunst verbindet, indem man hier – inmitten Ihrer Betriebe und Fabriken – das berühmte Birmingham Festival gegründet hat, und anschließend die Bemühungen dieser großen Stadt durch den majestätischen Säulengang jenes Tempels krönte, in dem so viele musikalische Meisterwerke von Tausenden begeisterter Verehrer erstmals gehört wurden.

 

Ich muß jedoch eingestehen, dass ich nur mit äußerster Zurückhaltung zu Ihnen über das Thema Musik spreche, und ich kann Sie sofort beruhigen, dass meine Ansprache sehr kurz sein wird, da ich mein ganzes Leben lang Musik gemacht und nicht darüber geredet habe. Es ist so leicht, bei einer Ansprache über Musik entweder in langweilige Gemeinplätze zu verfallen oder sich ermüdenden und für viele Hörer in einem breit gefächerten Publikum unverständlichen technischen Einzelheiten hinzugeben. Ich werde mich jedoch bemühen, diese beiden Fehler zu vermeiden, und ich hoffe, Ihnen in den wenigen Anmerkungen, mit denen ich mich an Sie wende, einigen Gedanken, die ich mir über das Thema gemacht habe, Ausdruck zu verleihen, die Sie, so glaube ich, genauso interessieren werden, wie sie mich interessiert haben.

 

Bei den Fortschritten, die unser Land in den letzten fünfzig Jahren gemacht hat, waren wohl keine größer als die im Bereich der Musik. Die Veröffentlichungen und Aufführungen haben in einem so außergewöhnlichen Maß zugenommen, dass die Meisterwerke – nicht nur die der alten Komponisten, sondern der ganz modernen – nun jedermann zugänglich sind; und das vielleicht mehr als in jedem anderen Land. England hat deswegen die Chance, wieder die Stellung zu erlangen, die man einst innehatte, als man vor vielen hundert Jahren als Musiknation an der Spitze Europas stand. Es war einst (ich glaube, dass selbst die teutonischsten der deutschen Historiker dies nun eingestehen) den anderen Nationen ein weites Stück voraus – doch wie wenig wissen wir selbst darüber und würdigen es entsprechend! Vor so langer Zeit, im Jahre 1230, war ein Musikstück, das ein Mönch zu Reading [gemeint ist Reading Abbey; Anm. d. Verf.] komponiert hatte (sein ehrenwerter Name war John of Fornsete, und das Manuskript seiner Arbeit findet man im Britischen Museum), sowohl im Melodienreichtum als auch im Ausdruck allen anderen Werken seiner Zeit weit, weit voraus. Ich meine hier natürlich den bekannten, sechsstimmigen Rundgesang „Sumer is a-cumin in“ [bei Lawrence auf Seite 262 – 289 auch an anderer Stelle so wiedergegeben; übliche Schreibweise: „Sumer is icumen in“ ; auch weitere Unstimmigkeiten gehen höchstwahrscheinlich auf Fehler bei der Veröffentlichung zurück und kaum auf Sullivans mangelnde Kenntnisse der entsprechenden Literatur; Anm. d. Verf.]. Bedenken Sie bitte, dass es vorher viel Jahre (um nicht zu sagen Jahrhunderte) an Studien und Fortschritten auf Seiten unserer Landsleute bedurfte, um eine herausragende Stellung zu erreichen. Aber wir brauchen uns nicht allein auf solche Andeutungen verlassen, denn es gibt Berichte, die belegen, wie sorgfältig und hingebungsvoll Musik in England seit der Herrschaft von König Alfred bis zur Reformationszeit ausgeübt wurde. Hier seien nur einige Beispiele genannt:

Im Jahre des Herrn 550 gab es eine große Zusammenkunft und einen Wettbewerb der Harfner in Conway – ein frühes Eisteddfod.

 

866 richtete König Alfred in Oxford eine Professur für Musik ein, und in diesen Zeiten der Angelsachsen muß es Ensemble-Musik gegeben haben, denn im Britischen Museum befindet sich das alte Bild eines Instrumentalensembles mit einer sechssaitigen Harfe, einer viersaitigen Geige, einer Trompete und einem Krummhorn. Merkwürdigerweise ist dies mit Ausnahme des Horns genau die Besetzung, die jeden Samstagabend vor einem Londoner Lokal spielt! Ich habe nicht erkennen können, ob der Hintergrund des gerade von mir erwähnten Bildes etwas Vergleichbares in der damaligen Zeit darstellt.

 

Sogar die Musik fing damals an, sich auf den Handel auszuwirken. Die Metallindustrie und das Tischlerhandwerk müssen schon davon profitiert haben, denn im 10. Jahrhundert gibt der Mönch Wulston eine lange Beschreibung eines vollen Orgelwerks in der Kathedrale zu Winchester, und St. Dunstan, der für sein Können in der Metallbearbeitung berühmt war, baute zur gleichen Zeit eine Orgel in Malmesbury Abbey, deren Pfeifen aus Messing waren.

 

Lange vor der normannischen Eroberung verwendete man den dreistimmigen Satz, der von den Chronisten als „Landessitte“ dargestellt wird. Thomas à Becket nahm bei seinem Besuch in Frankreich, wo er über die Hochzeit von Henry II. verhandelte, 250 Chorknaben mit sich, die einen dreistimmigen Satz sangen, von dem es ausdrücklich heißt, er sei „in englischer Manier, die man in Frankreich noch nie zuvor gehört hatte“ .

 

Es ist auch eine Genugtuung zu wissen, dass in jenen Tagen Musiker gut bezahlt wurden, denn bei der Trauung der Tochter von Edward I. erhielt jeder Sänger des Königs vier Schilling – das entspricht heutzutage mindestens zwanzig Pfund. Chaucer erwähnt in seiner Princesses' Tale beifällig, dass kleinen Kindern das Singen ebenso beigebracht wurde wie das Lesen [bei Chaucers Canterbury Tales gibt es nur eine Prioress's Tale; Anm. d. Verf.]. Nach meiner Auffassung schwächt er den Wert seines Urteils aber dadurch etwas ab, dass er an anderer Stelle meint, jedem Landjunker sollte das Flötenspiel beigebracht werden.

 

Unter der Herrschaft von Edward II. hatte die Satztechnik weitere Fortschritte gemacht. Vom „Turnier zu Tottenham“ lesen wir:


In allen Winkeln des Hauses
Erklangen herrliche Melodien
Sechsstimmiger Lieder.


Auch die Gründung von Militärkapellen fand in England schon zu einem sehr frühen Zeitpunkt statt. Als Henry VI. gegen Frankreich in den Krieg zog nahm er eine Kapelle von zehn Clarinospielern und anderen Instrumentalisten mit, die im Hauptquartier morgens und abends spielten. Dies ist die erste Militärkapelle, die schriftlich belegt ist. Königin Elizabeth entwickelte sie insofern weiter, dass sie auch eine Kapelle hatte, die zu ihren Mahlzeiten spielte. Diese bestand aus zwölf Trompeten, zwei Kesselpauken, Dudelsäcken, Kornetten und Rührtrommeln, und es erstaunt mich keineswegs, wenn ich lese, dass „diese Musik die Halle für eine halbe Stunde erschallen ließ“ .

 

Unter ihrer Regentschaft muß der Priester (wie es jetzt oft der Fall ist) der Kantor der Gemeinde gewesen sein und auch ein heiterer, netter Mensch, denn in Vernons Suche nach Fegefeuer und Tod aus dem Jahre 1561 schreibt der Verfasser: „Ich kannte einen Priester, der, wenn jemand von seinen Pfarrkindern heiratete, seine Sackpfeife nahm und sie damit zur Kirche geleitete, wobei er vor ihnen herging und angenehme Musik spielte. Dann legte er sein Instrument sorgfältig auf den Altar, bis er sie getraut und die Messe gelesen hatte. Danach brachte er sie auf vornehme Weise mit seiner Sackpfeife wieder heim.„

 

Ich könnte noch eine Menge Belege über die Vorrangstellung der englischen Musik bis zum Beginn des 16. Jahrhunderts anführen, doch ich will Sie nicht mit Einzelheiten ermüden – Einzelheiten, über die Sie sich auch selbst in Ihrer ausgezeichneten öffentlichen Bibliothek informieren können, wenn Sie sich näher mit der Sache befassen möchten. Es genügt festzustellen, dass wir eindeutige Belege von der Existenz einer hochentwickelten Schule von Musiktheoretikern haben, die den Gregorianischen Gesang der Kirche unangetastet ließen und ihn zur Grundlage ihrer Harmoniebehandlung machten; die ihre Stimmen in Partituren niederschrieben, und wir wissen von einem, der die früheste überlieferte freie und wohlklingende Komposition schuf: den vorhin erwähnten Rundgesang „Sumer is a-cumin in“ . Und darauf folgten eine ganze Reihe neuartiger Werke von Komponisten wie John Dunstable, der, obwohl er heute in England wenig bekannt ist, zu seiner Zeit im Ausland einen großen Ruf genoß.

 

Die Universitäten von Cambridge und Oxford erkannten die Bedeutung der Musik an, indem sie eine eigene Fakultät eröffneten und Doktortitel verliehen, entsprechend zu denen, die man auch schon sehr früh in Theologie, Jura und Medizin vergab. Jeanne d'Arc und ihr tragisches Ende scheinen für uns weit, weit in unserer Geschichte zurückzuliegen, aber nur dreißig Jahre nach ihrem Tod wurde in Cambridge der erste Doktortitel im Bereich Musik verliehen, und selbst heute kann man an keiner anderen europäischen Universität außer in England in Musik promovieren.

Es gibt eindeutige Hinweise darauf, dass sich die Musik bis zur Reformationszeit ständig fortentwickelte. Doch leider haben die Rosenkriege und die rücksichtslose Zerstörung, die mit der Abschaffung der Klöster einherging (in diesen harten, grausamen Zeiten die einzigen Heimstätten für alle Kunstsparten) selbst die kleinsten Anzeichen ausradiert. Dennoch steht fest, nicht nur durch die Abhandlungen und Kompositionen aus dem 14. und 15. Jahrhundert, sondern durch die Größe der Englischen Schule, der wir noch einmal um 1520 begegnen, dass in der Zwischenzeit unsere Musik wuchs und gedieh, wie alles in England wächst und gedeiht, wenn es nur im englischen Volk wurzelt.

 

Palestrina (von 1550 bis 1600) schrieb zweifellos bedeutendere Werke als alle seine Zeitgenossen, unsere eigenen Komponisten Tallis und Byrd eingeschlossen. Aber es ist kaum übertrieben, wenn man feststellt, dass die englischen Vorläufer von Tallis und Byrd – Edwards, Redford, Shepperd, Tye, White, Johnson und Marbecke, die zwischen 1500 und 1550 wirkten, den Vorgängern von Palestrina auf dem Kontinent weit voraus waren. Sie besaßen nämlich eine genauso gute Technik, überragten sie aber weit in ihrer melodischen Erfindung und ihrem, wie ich es nennen würde, gesunden Menschenverstand ihrer Musik. Ihre Kompositionen zeigen eine „angenehme Verständigkeit“ , eine menschliche Empfindung, eine Übereinstimmung mit den Worten und eine Entschlossenheit, wodurch sie mehr sind als bloß ein technisches, mechanisches Puzzle, was nur wenigen Komponisten auf dem Kontinent, wenn überhaupt, vor 1550 gelungen ist. Ich brauche nur den bekannten Titel des entzückenden, beliebten Madrigals „In going to my lonely bed“ (von Edwards, 1523-1566) zu nennen, um viele der hier Anwesenden davon zu überzeugen, dass das, was ich sage, stimmt. So sah unsere Situation in der ersten Hälfte des 16. Jahrhunderts aus, und die nächsten fünfzig Jahre, die sich daran anschlossen, sind die Glanzzeit der englischen Musik, in der berühmte Namen wie Morley, Weekes, Wilbye, Ford, Dowland und Orlando Gibbons wie Sterne funkeln. Diese Namen mögen einigen von Ihnen unbekannt sein, aber diese Männer gab es wirklich und ihre Werke leben; sie leben nicht nur durch ihr technisches Können, ihre reine Stimmführung und die reiche Harmonik, sondern durch den Strom schöner Melodik, der durch all ihre Werke fließt – eine Melodik, die selbst uns modernen, erschöpften Kreaturen noch wahre Ohrwürmer bietet und zu der es einfach nichts Vergleichbares gibt. Diejenigen von Ihnen, die Werke wie „Silver Swan“ von Gibbons und „Since first I saw your face“ von Ford gehört haben, werden mir, da bin ich sicher, beipflichten.

 

Ich will nicht näher auf die Gründe eingehen, die dazu geführt haben, dass wir seit fast 200 Jahren diese hohe Stellung verloren haben, und uns so berühmten Ausländern anvertraut haben wie Händel, Haydn, Spohr, Mendelssohn (bis jetzt der Lieblingskomponist der Engländer) und der italienischen Oper, die ausschließlich die Aufmerksamkeit der vornehmen Klassen auf sich gezogen hat und sich wie ein großer Moloch über alle Bemühungen um die eigene Musik rücksichtslos hinwegsetzte und sie beiseite drückte. Nach meiner Auffassung liegt die Ursache dafür größtenteils an dem Enthusiasmus, mit dem man Handel betrieb, und an dem außergewöhnlichen Maß, mit dem religiöse und politische Kämpfe und später noch angewandte Wissenschaft unsere Energien beansprucht haben. Wir gaben uns damit zufrieden, Musik zu kaufen, während wir Kirchen, Dampfmaschinen, Eisenbahnen, Baumwollspinnereien, Verfassungen, Ligen gegen die Getreidezölle und Parteiausschüsse machten. Nun ist jedoch, wie ich bereits gesagt habe, die Lage der Dinge im Wandel begriffen – ja sie hat sich gewandelt. Und dennoch kann ich mich des Eindrucks nicht erwehren, dass wir erst am Eingang zum Gelobten Land stehen. Noch immer findet man Denkgewohnheiten und Wirkungsweisen, die zeigen, dass wir noch viel leisten müssen, bevor wir wieder die Musiknation werden, die wir in den fernen Jahrhunderten unserer Geschichte waren. Wir lieben die Musik wirklich, aber es ist eine geringere Leidenschaft als jene, die wir für andere Dinge des Lebens aufbringen. Wir lassen immer noch nicht davon ab, uns bei musikalischen Darbietungen zu unterhalten; immer noch kommen wir zu Konzerten zu spät, und wenn ein großes, ergreifendes Werk jedermann in Bann schlägt, bestehen wir auch oft darauf, zwanzig oder dreißig Leute zu stören und ihnen den Genuß zu rauben, weil wir nun einmal die Plätze Nummer 23, 24 und 25 gekauft haben und meinen, dass man von dieser Geldausgabe schon etwas haben muß [Die „oberflächliche Musikkultur der Leute“ brandmarkte Shaw später auf ähnliche Weise, vgl. The Star 31. Mai 1889; Anm. d. Verf.]. Und wenn wir zu spät kommen, verlassen Sie sich darauf, gehen wir natürlich auch immer bevor das Konzert zu Ende ist, um zu demonstrieren, wie vollkommen unabhängig wir sind. Hierin halten wir es wie Charles Lamb, der, als er noch Angestellter in einem Büro in Ostindien war, von seinem Chef gefragt wurde: „Mr. Lamb, Sie kommen morgens immer so spät.“ „Ja, Sir“ , entgegnete er, „aber dafür gehe ich nachmittags auch immer sehr früh.„

 

Mir liegt nicht daran, die Ausländer auf Kosten der Engländer zu loben, aber sowohl von den Deutschen als auch von den Franzosen können wir in dieser Hinsicht noch einiges lernen. Ich fürchte, wir müssen uns eingestehen, dass sogar heute noch in der Einstellung eines echten Briten das Geschäft, gesellschaftlicher Umgang, Politik und Sport alle noch vor der Kunst rangieren. Kunst ist eine feine Sache; es macht uns nichts aus, dafür zu bezahlen und auch gut dafür zu bezahlen. Aber wir haben nur Spaß daran, wenn sie keiner dieser Lieblingsbeschäftigungen in die Quere kommt – die Folge davon ist, dass sie oft darunter leiden muß.

 

Ich möchte eine unterhaltsame kleine Begebenheit erwähnen, die eine ähnliche Gleichgültigkeit in einem anderen Kunstbereich zeigt; sie wurde mir bei den Vorbereitungen zu dieser Rede zugetragen. Eine sehr bedeutende Handelsgesellschaft gab meinem Freund, Sir John Millais, eine große Geldsumme für ein schönes Bild mit einer lebensgroßen Darstellung des uns so vertrauten Burschen, der Seifenblasen aufsteigen läßt [es handelte sich um Werbung für „Pears' Soap“ ; Anm. d. Verf.]. Die Blase ist in der Luft über dem Kopf des Jungen, und das Bild macht jedem klar, um was es geht. Es wurde jedoch noch eine zweite Reproduktion herausgebracht, und damit der Firmenname mehr auffällt, wurde die Blase überklebt, wodurch aber auch die Pointe des Bildes verloren geht.

 

Aber abgesehen von der Gleichgültigkeit, über die ich gesprochen habe, hatte die Musik zweifellos unter der hochmütigen Verachtung sehr zu leiden, mit der sie und ihre Verfechter von jenen behandelt wurden, die behaupteten, ihr Weg zum Ruhm würde in eine andere Richtung führen. Es stimmt schon, dass sich seit den Tagen jenes skrupellosen Adeligen, Lord Chesterfield, die Dinge sehr verändert haben. Eton, Harrow, Rugby – alle großen Schulen – haben jetzt ihre Musiklehrer, die auf der gleichen Stufe stehen wie andere Lehrer. Gehen Sie in den Kasernen in die Offiziersquartiere, und Sie werden dort Pianofortes, Geigen und Violoncelli finden, und dort wird gute Musik herumliegen. Laienvereinigungen, die Arm und Reich zusammenbringen, sind sehr erfolgreich. Seine Königliche Hoheit, der Herzog von Edinburgh, erzählte mir, dass sich unter den Offizieren an Bord seines Schiffes ein vollständiges Streichquartett befand – all dies verweist auf die starke innere Hinwendung der höheren Berufsstände zur Musik.

 

Aber trotzdem bleibt noch viel von dem alten Sauerteig übrig, und eine der bedenklichsten Entwicklungen ist eine merkwürdige affektierte Ignoranz auf Seiten vieler Männer, die eine Stellung im politischen und wissenschaftlichen Leben einnehmen – als ob die Musik für ihren erhabenen Geist eine zu banale Angelegenheit sei, um sich damit zu befassen. Bei jeder großen Tagung zum Thema Musik wird unter den Erzbischöfen, Richtern, Politikern und Finanzfachleuten jeder, der das Wort ergreift, jegliches musikalisches Wissen mit einer heimlichen Genugtuung verurteilen, wie ein Mann, der mit seinen armen Verwandten nichts zu tun haben will.

Ich bin nicht gekommen, um zu erläutern, warum die Musik gefördert werden sollte, auch nicht, um mich bei den geistig überlegeneren Leuten dafür zu entschuldigen, dass es sie gibt, und auch nicht, um bescheiden und mit verhaltenem Atem von ihren Verdiensten zu reden. Aber ich beanspruche für sie offen und stolz ihren Platz unter den großen Dingen und den großen Einflüssen in der Welt, und ich kann nur mein Bedauern für jene zum Ausdruck bringen, die ignorant und dumm genug sind, um ihre Bedeutung in der Welt und der Geschichte zu leugnen und sie nur als Zeitvertreib für die Familie betrachten, als Frauen- und Kinderkram.

Darwin schreibt in seiner Abstammung des Menschen: „Weder das Vergnügen an den musikalischen Tönen, noch das Vermögen, sie zu erzeugen, sind Fähigkeiten, die der Mensch im Hinblick auf seine normalen Lebensgewohnheiten unmittelbar verwenden kann.“ Physiologisch betrachtet mag er vielleicht recht haben, aber sobald man über die reinen Grundbedürfnisse hinausgeht, sobald aus der bloßen Existenz Leben wird, ist seine Aussage vollkommen falsch. Musik ist in der Tat, wie der gleiche Philosoph an anderer Stelle sagt, in das tägliche Leben eingebunden und ein Lebensbedürfnis.

 

An ihrer Nützlichkeit im täglichen Leben kann kein Zweifel bestehen. Was wären Gottesdienste ohne Orgelspiel und Gesang? Was wäre das Militär ohne Kapellen? Wäre die Musik bloß ein Luxus, würden die Leute dann soviel Zeit und Geld dafür aufwenden? Sie soll für uns nicht nur eine Ohrenweide sein, sondern sie ist eine Notwendigkeit, die bestimmte Anforderungen unseres Geistes befriedigt. Sie dringt in die Chemie unseres Geistes ein, so wie Salz in die Chemie unseres Körpers dringt. Dann und wann wird man jemanden treffen, der sagt: „Ich esse nie Salz, ich brauche das nicht.“ Na gut, man wird ihn bedauern, aber offensichtlich stimmt irgendetwas in seiner körperlichen Verfassung nicht. Wenn nun irgendjemand sich einen Ton stolzer Überheblichkeit angewöhnt hat, und damit prahlt, dass er nichts über Musik weiß und angeblich nicht in der lage ist, einen Ton vom anderen zu unterscheiden [wie etwa Gilbert; Anm. d. Verf.], kann man seine Aussage mit beträchtlichen Vorbehalten einfach hinnehmen, oder daraus schließen, dass irgendetwas mit seinen körperlichen und geistigen Fähigkeiten nicht stimmt und ihm empfehlen, einen Künstler zu konsultieren.

 

Haben Sie nun noch ein paar Augenblicke Geduld mit mir, in denen ich kurz drei Punkte zum Thema Musik anreißen möchte: ihre Nützlichkeit, ihre Notwendigkeit für den Geist und ihren übermächtigen Einfluss in der Welt. Es ist außergewöhnlich von welch einem frühen Zeitpunkt an die Musik eine bedeutende Rolle übernommen hat. In dem Bericht über die Erschaffung der Menschen, wie wir ihn im Buch Genesis finden, wird die Gesellschaft in drei große Gruppen gegliedert: (1.) Ackerbauern, „die Zeltbewohner und Hirten“ , (2.) Warenhersteller, „Schmiede, die Erz und Eisen bearbeiten“ , (3.) Musiker, „Zither- und Flötenspieler“ , also Streicher und Bläser. Die Musik steht dabei auf einer Stufe mit so wesentlichen Arbeiten wie Landwirtschaft und Warenproduktion. Und diesen gleichen Anteil im Getriebe der Welt hat sich die Musik bewahrt. Aber sie gehört nun einmal zum innersten Teil der menschlichen Natur, ihre Gegenwart wird oft übersehen, und sie ist uns ebensowenig bewußt wie die Luft, die wir atmen, unser Sprechvermögen, die natürliche Bewegung unserer Muskeln oder unser Herzschlag. Sie ist ein wesentlicher Teil des menschlichen Lebens. Vom sanften Wiegenlied unserer Mutter, das uns in der Kindheit beruhigt, bis zum Klagelied, das an unserem Grab gesungen wird, ist die Musik in unser Dasein eingedrungen. Sie markiert Perioden und Zeitabschnitte in unserem Leben, spornt unsere Bemühungen an, stärkt unseren Glauben, vermittelt uns Worte des Friedens und des Krieges, und übt auf uns einen Reiz und eine grenzenlose Macht aus, die wir alle spüren, obwohl wir sie nicht erklären können. Ich sage es noch einmal: Sie ist für den Geist ebenso notwendig wie Salz für den Körper.

 

Und nun, um die Frage der Nützlichkeit für unser britisches Verständnis mit Nachdruck zu verdeutlichen: Was wäre der Handel ohne die Musikbranche, ohne diese Vielzahl von Industriezweigen, die Millionen von Arbeitern, die erforderlich sind für die Herstellung von Orgeln, Klavieren und alle Arten von Blas-, Streich- und Schlaginstrumenten, für den Notenstich, den Schriftsatz und den Notendruck, für die Herstellung von Millionen Bögen Papier für das Drucken und Kopieren von Noten?

 

Ich will nur einen Aspekt herausgreifen, der zwar vergleichsweise klein, für Birmingham aber von besonderem Interesse ist. Haben Sie sich jemals überlegt, welche Mengen von Stahldraht für die Klavierherstellung benötigt werden? Es ist unmöglich, die aktuellen Statistiken des weltweiten Klavierhandels zu bekommen, aber ich habe einige Mühe aufgewendet, um das in Erfahrung zu bringen, und ich habe eine ungefähre Schätzung zustande gebracht. Nimmt man die Produktionszahlen der wichtigsten Herstellerländer – England, Frankreich, Deutschland, Amerika und einiger kleinerer Staaten – , dann komme ich auf eine Gesamtsumme, der zufolge jedes Jahr etwa 175.000 Klaviere produziert werden, und da die durchschnittliche Drahtmenge, die man für ein Klavier braucht, etwa 570 Fuß sind, können Sie selbst schnell überschlagen, dass dies insgesamt 18.892 Meilen Stahldraht sind! Wäre alles aus einem Stück, würde es von hier bis nach Japan und wieder zurück reichen, und selbst dann würde noch genug übrigbleiben, um damit bis nach Schottland und wieder zurück zu gelangen.

 

Wenn wir nun die Frage anschneiden, welchen Einfluss die Musik hat, kommen wir zu ihrer wichtigsten Aufgabe – den Bereich, wo sie ihre größte Macht ausübt. Wer vermag den unbegrenzten Einfluss der Musik auf das menschliche Gefühl zu messen? Wer kann die gewaltige Macht leugnen, die sie auf die menschlichen Leidenschaften hat? Oder jene dynamische Kraft abstreiten, die sie im Verlauf der Geschichte hatte? In der Welt der Antike findet man sie ständig im Zusammenhang mit ereignisreichen Vorfällen. In den frühesten Erzählungen der Bibel zeigt sich dieser Zusammenhang mehr als einmal. Ich werde nur auf ein Ereignis im Leben des Lamech, des vorsintflutlichen Patriarchen, hinweisen – ein Ereignis, das in den vermutlich ersten Versen der Dichtkunst, die es auf der Welt gab, dargestellt wurde. Ich möchte Sie aber daran erinnern, dass im Osten Dichtung und Musik eine dauerhaftere Bindung eingegangen sind als bei uns und dass Lamechs Dichtung wohlmöglich ihre eigene Melodie hatte. Vom Wirken des Jubal, des Erfinders der Streich- und Blasinstrumente und Ahnherrn aller ihm nachfolgenden Musiker, wurde (wie ich bereits dargelegt habe) genauso berichtete wie über die Begründer von Landwirtschaft und Technik. Von dem größten aller großen Brunnen, die die Israeliten auf ihrer Wanderschaft durch die Wüste versorgten, wird ausdrücklich berichtet, dass er zu den Klängen einer feierlichen nationalen Musik gegraben wurde. Welche Dimensionen das annahm, können wir aus den Worten der alten Erzählung kaum entnehmen, dafür aber aus dem Hinweis, dass auf besonderes Geheiß Jahwes, des großen Gesetzgebers selbst, die Führer des Volkes und die ganze Versammlung mitsangen, und so kann man kaum noch daran zweifeln, dass es ein höchst eindrucksvolles und ergreifendes musikalisches Zeremoniell war. Uns sind die Worte, nur die bloßen Worte selbst überliefert [in 4 Moses 21, 17-18; Anm. d. Verf.]:


Spring auf, Brunnen! Spring auf!
Der Brunnen, von Fürsten gegraben,
gebohrt von den Edlen des Volkes
mit dem Zepter, mit ihren Stäben.


Wäre uns doch auch noch die Musik erhalten geblieben!

In Griechenland stellen wir fest, dass schon 514 v. Chr. die erste echte politische Revolution – die Ermordung des Tyrannen Hipparchus und die Einsetzung einer freien Regierung – mit einem Lied gesegnet und möglicherweise sogar begleitet wurde, das noch erhalten ist: das Lied von Harmodius und Aristogeiton. Dieses Lied ist seit Generationen eine Parole der griechischen Jakobiner.

 

Auch in moderneren Zeiten hat sich die Musik ihren politischen Einfluss vollständig bewahrt. Die Reformation in Deutschland wurde durch Luthers berühmtes Kirchenlied „Eine feste Burg“ und andere seiner Choräle mit Macht vorangetrieben, von denen man ja weiß, dass sie die Bekehrung ganzer Ortschaften zum reformierten Glauben beschleunigt haben und dass sie während des letzten deutsch-französischen Krieges lebendige Symbole heldenmütiger Freude und Losungen für den nationalen Glauben waren. Während des gleichen Krieges hatte das nationale Lied von der „Wacht am Rhein“ eine Popularität und einen Einfluss, den wir nur schwer begreifen können, wenn man bedenkt, wie schwach die Melodie ist, aber dennoch ist es in dem gewaltigen nationalen Monument bei Bingen am Rhein verewigt, das 1883 errichtet wurde. Ich brauche eigentlich nur noch auf die kriegerischen Lieder der Franzosen verweisen – „Malbrouk“ , „Ça ira“ und die „Marseillaise“ – , die 1790 in der Französischen Revolution eine so große Rolle gespielt haben, oder auf „Dunois the young and brave“ und den „Chant du Départ“ , die bei späteren Revolutionen das Feuer auf beiden Seiten angefacht haben.

 

Auch wir Briten sind nicht ohne musikalische Einflüsse gewesen. Die gewaltige Macht, die die walisischen Barden ausübten, führte zu ihrer Ausrottung. Wer Carlyles History of Cromwell gelesen hat, wird sich an seine Schilderung der Schlacht bei Dunbar erinnern und an die Erregung, die diesen schweigsamen, zurückhaltenden Mann gezwungen hat, seine Soldaten voranzutreiben, indem er brüllte und sie den 117. Psalm brüllen ließ in jener Fassung, die noch heute in der schottischen Kirche zu einer noch immer erhaltenen Melodie gebräuchlich ist. Auf der anderen Seite hatten „The King shall enjoy his own again“ und „Bonnie Prince Charlie“ großen politischen Einfluss auf die Begeisterung und den Mut der Königstreuen. Und muß ich vor einer britischen Zuhörerschaft mehr tun, als auf jene gewaltige Melodie zu verweisen, die uns alle über die ganze weite Welt verbindet – „God Save the Queen!„

 

Dibdins Lieder, die einfach und melodiös sind, gewiß, haben unsere Seeleute gelehrt, was Patriotismus und Selbstverleugnung ist, und „Auld Lang Syne“ hat uns Güte, Wohlwollen und die Überwindung so mancher langen Entfremdung zwischen Freunden gebracht.

 

Na schön, aber das ist doch alles nur eine Sache des Gefühls, mögen manche einwenden. Ja, aber wer jene Kraft, die das Gefühl auf die menschliche Natur hat, standhaft leugnet, ist ein blinder Narr. So mancher Politiker hat dies bereits gemerkt oder wird es noch auf seine Kosten feststellen.

 

dass diese Kraft des Gefühls wirklich schon erkannt wurde, sehen wir an der Tatsache, dass bestimmte Musikstücke wegen ihres Einflusses verboten wurden. In Polen erlaubten die Russen weder Mann noch Frau noch Kind, irgendwelche ihrer eigenen nationalen Lieder zu singen. Dadurch konnten Gefühle wachgerufen werden, die für die Eroberer gefährlich waren. Bestimmte Melodien sind für die Kapellen der Hochland-Regimenter selbst heute noch verboten, wenn sie weit weg von daheim in Kasernen im Ausland untergebracht sind. Sie wirken sich sogar auf die körperliche Verfassung vieler Männer aus; sie werden durch übergroßes Heimweh, hervorgerufen durch die Musik, krank. Und das gleiche passiert mit dem Schweizer Bauern, wenn man ihn aus seinen Bergen und Tälern herausnimmt; die geliebten Weisen des „Ranz des Vaches“ rufen ein positives Leiden hervor – echtes Heimweh.

 

Ich war selbst Zeuge der außergewöhnlichen Wirkung der rhythmischen Musik auf die Araber in Ägypten, vor allem bei der großen Prozession, mit der der heilige Teppich nach Mekka gebracht wurde. In einem Zelt waren fast 100 Derwische, die mit ihren Körpern unter allen möglichen Bewegungen und Verrenkungen hin- und herwiegten, und dabei immer wieder im gleichen monotonen Rhythmus sangen, bis sie ganz rasend wurden und umfielen, einige bewusstlos, andere unter heftigen Anfällen, was sie richtig gefährlich machte.

 

Und ist nicht unserer eigener britischer Soldat ganz bewegt bei Melodien wie „The British Grenadier[s]“ und „I'm ninety-five“ , die seine ganzes Wesen in Begeisterung versetzen und ihm das Gefühl geben, dass er es noch mit fünf Ausländern aufnehmen kann!

 

Wenn nun dieser Einfluss derart groß ist, sollte er dann nicht entsprechend gewürdigt werden und durch eine geeignete Ausbildung geregelt werden? Eine Ausbildung, die nicht für den Zweck von Aufführungen gedacht ist, sondern für eine Förderung von kritischer Würdigung und Verstehen. Die Schulkommission unternimmt zwar etwas, aber sie könnte noch wesentlich mehr machen. Das Parlament stellt für Musik 160.000 Pfund zur Verfügung, aber das Geld wird nicht unmittelbar für die Ausbildung verwandt – es wird als Zuteilung je nach Besucherzahlen eingebracht; was dabei herauskommt, weiß ich nicht. Ich sollte mich hier eigentlich auf meinen Freund Sir John Stainer beziehen, den Regierungsbeauftragten für die Schulen. Aber es ließe sich wirklich Großes vollbringen, wenn eine so überwältigende Summe für die Ausbildung aufgewendet würde.

 

Es ist bemerkenswert, wie sehr Kinder die Musik lieben – sehen Sie nur einmal, wieviel Freude sie an ihren Schulliedern und -gesängen haben. Und mit ihrer Liebe zur Musik ist es mit Beendigung der Schule nicht vorbei. Die Mädchen begleitet sie in die Fabriken, die jungen Kerle werden wichtige Mitglieder in einer der zahllosen Blaskapellen, die in letzter Zeit in den mittleren und nördlichen Landesteilen einen solchen Aufschwung genommen haben. Im Musikleben unseres Landes findet man eine gewisse Kontinuität, die gefördert und unterstützt werden sollte; am Anfang daheim, in der Dorfschule, dem Kirchenchor, der Chorvereinigung oder der Blaskapelle und in bestimmten Fällen durch ein systematisches Studium an einer unserer großen Musikschulen. Die Stadtverwaltungen sollten diese Arbeit angehen und sie in geregelte Bahnen lenken, indem sie eine Art Oberschule einrichten. Irland hat ein Sondergesetz, das den Musikunterricht in städtischen Schulen mit Hilfe der Gemeindeabgaben verbindlich macht, aber dieses Glück ist uns in England noch nicht vergönnt. Durch unsere Gesetzgebung wird die Musik nicht nur nicht unterstützt, sondern sie zeigt auch eine merkwürdig spießbürgerliche Einstellung zur Musik – ich meine hier, dass die Bewilligungen für Musik und den Ausschank alkoholischer Getränke in das Ressort der gleichen Behörde fallen. Ich vermute, dass es dafür irgendeine spitzfindige Begründung gibt, aber ich begreife nicht, warum inmitten all des Niederen und Entwürdigenden, das einzige humanisierende Element, das arme, berauschte Kreaturen aus der Tiefe ihres deprimierenden, schäbigen Zustands wieder aufrichten könnte, und sei es nur für einige Augenblicke, der besonderen Genehmigung der Obrigkeit bedarf. Sie können so viel trinken wie sie wollen, aber wehe einer von ihnen singt ein Lied oder spielt eine Weise auf dem Kornett oder der Geige – schon schikaniert sie das Gesetz.

 

Ich frage mich, ob diese Widersinnigkeit aus der überheblichen Geringschätzung heraus entspringt, mit der viele unserer so genannten Politiker mit ihrem ungesalzenen Geist die Musik behandeln. Für sie war es eine Beschäftigung für die „unteren Klassen“ , genau das richtige zum Trinken und Seiltanzen. Natürlich bezieht sich die Zulassung auf den Platz und nicht auf die Kunst, das weiß ich. Aber weder eine Gemäldegalerie noch eine Buchhandlung brauchen eine solche Genehmigung, und dabei kann der öffentlichen Moral durch Bücher und Bilder wesentlich mehr Schaden zugefügt werden, als durch Musik.

 

Und hierin liegt eine der göttlichen Eigenschaften der Musik, nämlich dass es nicht in ihrer Macht steht, irgendetwas unmoralisches auszudrücken. In ihren zahllosen Stimmungen und überaus vielfältigen Formen findet sich für jeden etwas, und sie vermögen jede Bedeutung auszudrücken, außer eine – die unmoralische. Die Musik kann keine unschicklichen Gedanken nahelegen, und darin ist sie vielleicht der Malerei und der Bildhauerei überlegen, die beide an Anstößiges gemahnen können und es manchmal auch wirklich darstellen. Diesen Makel kann man der Musik nicht vorwerfen; allein (ohne Worte, Darstellung oder ein beschreibendes Programm) müssen die Klänge durch ihre Unbestimmtheit unschuldig sein. Wir können Gott danken, dass es einen erhebenden und veredelnden Einfluss in der Welt gibt, der niemals, niemals seine Reinheit und Schönheit verlieren kann.

 

Ich bin nun am Schluss meiner Überlegungen angelangt, die ich mir bei den Vorbereitungen zu dieser Rede für Sie zurechtgelegt habe. Sie mögen vielleicht etwas ungeordnet gewesen sein, doch es war nicht beabsichtigt, auf eine bestimmte Moral zu verweisen. Ich habe versucht, Ihnen zu zeigen, dass England unter den Musiknationen einstmals im vordersten Glied stand, und ich möchte Sie nun nur dringend darum bitten, alle erdenklichen Anstrengungen zu unternehmen, um England diese Vorrangstellung wiederzugeben. Der Weg dazu besteht in der Ausbildung. Wir müssen gelernt haben, Musik zu schätzen, und ein Verständnis für Musik muß der Aufführung vorausgehen. Geben Sie uns intelligente und gebildete Hörer, und wir werden Komponisten und Interpreten hervorbringen, die ihrer würdig sind. In England wird jetzt viel getan für die höhere Ausbildung von Musikern. Am Royal College of Music leistet mein alter, verehrter Freund George Grove eine unschätzbar wertvolle Arbeit; er führt und leitet mit untrüglichem Urteilsvermögen ein hervorragendes Professorenkollegium und steckt jedermann mit seinem eigenen Enthusiasmus an. Auch dürfen wir die Dienste nicht vergessen, mit der die Royal Academy of Music zur Musikerziehung beigetragen hat, und dass sie unter der beherzten Führung eines begabten Musikers, Dr. Mackenzie, jeden Tag ihren nützlichen Einflussbereich erweitert. Viele andere ähnliche Einrichtungen kämpfen ernsthaft und unermüdlich in dieser Schlacht für unsere Kunst, und heute Abend waren wir Zeugen des Ergebnisses dieser unermüdlichen Tatkraft, die Birmingham in so hohem Maße besitzt, wie der Aufschwung des Midland Institute zeigt, und ich bin stolz, dass die Musikerziehung hier solch eine führende Rolle einnimmt. Im Verzeichnis des Lehrkörpers lese ich viele Namen, die mir gut bekannt sind – ihre Namen sind ein Garant für die Qualität des Unterrichts. Aber es gibt ein bestimmtes Fachgebiet, für das kein Professor ernannt wurde, und das mit gutem Grund, denn ich bin sicher, dass jeder Lehrer des Kollegiums sie zum Bestandteil seiner Unterweisung macht – nämlich die Kunst des Zuhörens. Wir wollen eher gute Hörer als gleichgültige Interpreten, und mit diesem moralischen Grundsatz und mit meinem herzlichen Dank für das große Kompliment, das Sie mir dadurch gemacht haben, dass Sie so nette und aufmerksame Zuhörer waren, möchte ich schließen.

 

 

 

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